oder: Wie geht es weiter mit den „Elternklagen“? Zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. April 2022 (1 BvL 3/18 u.a.) (Teil 2)
von Jürgen Borchert aus der fh 3/23
In der Ausgabe 2/2023 unserer Zeitung „Familienarbeit heute“ veröffentlichten wir den 1. Teil dieses hier folgenden Beitrags „Die Zugrunde-Richter“ aus der Feder des renommierten Sozialrichters und „Anwalts der Familien“ Dr. Jürgen Borchert, der bereits 1981 in seiner Dissertation Leitlinien für ein familiengerechtes Rentensystem entwickelt hat.
Wie die Verfassungsrichter den klagenden Eltern ein Begehren nach Privilegierung unterstellen und so das Abwehrgrundrecht nach Art. 6 Abs. 1 GG leer laufen lassen
Mittels dieser Verdrehung des wirklichen und vielfach dokumentierten konträren, auf Beseitigung ihrer Diskriminierung gerichteten Klägerbegehrens will der Senat offensichtlich die scharfe Verteilungsdebatte zwischen Familien und Nichtfamilien ausklammern, welche aus den beiden vorangegangenen Urteilen zwangsläufig folgt: Grundrechte entfalten ihre volle Wirkung v.a. als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe. Wer aber Privilegien begehrt, der wehrt sich nicht gegen Benachteiligungen, sondern wünscht Bevorzugungen. Mithin kommt das harte Abwehrgrundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG nicht zur Anwendung, welches die Vorgängerurteile zum Maßstab nahmen! Tatsächlich handelt es sich hier um eine Verbiegung der Wirklichkeit, die schwerlich mit dem Wahrheitsgebot vereinbar ist, an welches Richter gebunden sind.
Dass sie (die Familien) gravierend und verfassungswidrig benachteiligt werden, ist die Quintessenz des BVerfG in seinen Urteilen von 1992 und 2001. Worin soll dann die „Privilegierung“ bestehen? Das erklärt das Gericht im Beschluss genauso wenig wie den offenen Widerspruch, der sich aus der Tatsache ergibt, dass es ja „Nachteile“ der Eltern identifiziert, was mit der behaupten „Privilegierung“ naturgemäß nicht auf einen Nenner passt. Das ist nichts weniger als konfus.
[…] Mit dem Urteil von 2001 hat das Bundesverfassungsgericht „Recht“ geschaffen, an welches auch das Gericht selbst gemäß Art. 20 Abs. 3 GG gebunden ist. […] Selbstverständlich kann das Gericht mit seiner eigenen Rechtsprechung brechen, muss das dann aber zur Vermeidung einer unzulässigen Überraschungsentscheidung den nichtsahnenden Klägern mit der Gelegenheit zur Stellungnahme mitteilen („rechtliches Gehör“) und begründen. Dieses fundamentale Grundrecht der Kläger hat das BVerfG vorliegend mit Füßen getreten: Weder wurden sie vom Gericht auf die Absicht der grundlegenden Änderung seiner Judikatur vorab mit der Gelegenheit zur Stellungnahme hingewiesen, noch fand die zwingend gebotene mündliche Verhandlung statt – und das bei einem Sachverhalt, der nicht nur für fast 90 Prozent der Bevölkerung Deutschlands gewaltige ökonomische Konsequenzen, sondern für „die Stabilität und das Gleichgewicht des Ganzen“ enorme Auswirkungen hat. […]
In Anbetracht der Tatsache, dass der Beschluss mit der – ebenfalls nicht weiter erklärten – Behauptung beginnt, das Begehren der Kläger ziele auf eine „beitragsrechtliche Privilegierung“ ab (Randnummer 2) begegnet die Analyse von Anfang an einer irrealen, die Wirklichkeit vollständig verdrehenden Rezeption des Sachverhalts, indem das Gericht nicht nur die benachteiligenden Verteilungswirkungen der streitgegenständlichen Systeme zu Lasten sozialversicherter Eltern und Kinder in der sozialen Wirklichkeit, jahrzehntelang Konsens der Fachleute und des BVerfG, nunmehr weitestgehend leugnet – sondern zugleich das Begehren der Kläger auf Beseitigung ihrer milliardenschweren Nachteile auf den Kopf stellt. […]
Dass das BVerfG aber gleich zu Beginn des Beschlusses (Randnummer 2) die transferrechtliche Wirklichkeit des Dreigenerationenvertrags sowie das Begehren der Kläger mit der Behauptung auf den Kopf stellt, dieses ziele auf eine „beitragsrechtliche Privilegierung“, wurde ausweislich des bisherigen Echos in der Literatur also noch nicht wahrgenommen. Dabei beinhaltet diese Verdrehung der Tatsachen von Beginn an den für das Ergebnis vorentscheidenden Richtungswechsel des Prüfmaßstabs weg vom kategorischen Abwehrgrundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG gegenüber den transferrechtlichen Eingriffslagen hin zum bloßen Gleichheitssatz mit seinen „weichen“ Konturen für die frei erfundene „Privilegierung“. Nicht nur der Sachverhalt und das Klägerbegehren werden so verbogen, sondern zugleich das mit dem Beitragskinderurteil geschaffene Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) mit seinem Maßstab. […]
Wie die Richter die Benachteiligung von Müttern perpetuieren, indem sie den Aufwand für Kinder als Opportunitätskosten banalisieren und ihre Erziehung damit als Hobby betrachten
Wiederholt wurde das Gericht von den Klägern auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass Kindererziehung dominant vor allem durch „Arbeit“ bzw. „Zeitallokation“ definiert wird und eine Reduktion auf Realaufwand sowie Opportunitätskosten bei weitem zu kurz greift, sogar diskriminierend wirkt. […] Diese „Arbeit“ lässt sich auch nicht etwa unter „Opportunitätskosten“ verbuchen, weil sie auch neben einer vollen Erwerbstätigkeit von Eltern geleistet werden muss, an Wochenenden, zu Nachtstunden und während der Krankheitszeiten von Kindern. Der Verbuchung als bloße Opportunitätskosten stehen bereits die arbeitszeitrechtlichen Schutzvorschriften im Wege. In welchem Ausmaß voll erwerbstätige Eltern sich darüber hinaus noch für ihre Kinder einsetzen müssen, hat nicht zuletzt die Coronakrise zutage gefördert, deren für Familien besonders schwer erträgliche Begleiterscheinungen dem Senat offensichtlich nicht zu Bewusstsein gekommen sind. Sicher mindert der Ausbau der Krippenbetreuung und der Ganztagsbeschulung, oberflächlich betrachtet, den zeitlichen Aufwand der Eltern; andererseits weiß jeder Praktiker, dass ganztags fremdbetreute Kinder einen hohen zusätzlichen Kompensationsbedarf aufweisen, der besondere Anforderungen an die elterlichen Zuwendungen gerade in den Abendstunden und an den Wochenenden stellt, die nicht selten zulasten der Rekreationsbedürfnisse der Eltern gehen.
Mit seiner These zur ökonomischen Substanz der Kindererziehung und den daraus abzuleitenden Nachteilen, reduziert auf Realaufwand und Opportunitätskosten, reproduziert der Senat den blinden Fleck überholter Denkfiguren aus dem 19. Jahrhundert und diskriminiert die Kindererziehenden. […] Kindererziehung ist kein Hobby, sondern sie konstituiert die Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft.
[…] Ausgerechnet das BVerfG schreibt den Millionen Müttern mit diesem Beschluss (Randnummer 258) ins Stammbuch, es sei verfassungsmäßig völlig in Ordnung, dass sie um ihre genuinen, originären Ansprüche auf Altersunterhalt vom Rentensystem geprellt werden und gegenüber ihren kinderlosen Jahrgangsteilnehmerinnen zurückstehen müssen. […] Was denkt sich das BVerfG dabei, wenn es diese unmittelbare Komplementarität zwischen den massiven ökonomischen Nachteilen der Familien mit mehreren Kindern auf der einen Seite und den leistungslos erworbenen Privilegien der kinderlosen Rentner auf der anderen Seite bei der „Betrachtung der Wirklichkeit des Dreigenerationenvertrags“ partout ausklammern will?
Mangelhafte Urteilsfindung, nicht einmal eine mündliche Verhandlung: Wie das Bundesverfassungsgericht seinen Auftrag verfehlt, Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen
Entgegen den Behauptungen der Bundesregierung sowie den darauf gestützten Annahmen des BVerfG kann von einem Nachteilsausgleich zugunsten der Familien auch bei der GKV keine Rede sein. Erneut zeigt sich, dass das BVerfG ohne eigene fachwissenschaftliche Kompetenz letztlich nur politisch motivierte Propaganda reproduziert. Dies unterstreicht ein weiteres Mal, dass die Verweigerung der mündlichen Verhandlung nicht der „Wahrheit und Gerechtigkeit“ gedient, sondern beides verhindert hat. […]
Dem Beschluss fehlt es an der gebotenen Tiefe und Gründlichkeit also vollkommen. Statt sich mit dem Streitgegenstand zu befassen, welcher durch die Klägeranträge und ihr Vorbringen sowie die vorinstanzlichen Entscheidungen definiert wird, kreierte das Gericht willkürlich eine „beitragsrechtliche Privilegierung“ als Begehren und stellte damit den Sachverhalt auf den Kopf. […]
Die Anamnese des Problems wurde vollständig ausgespart, jegliche Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung der Sozialversicherung unterbleibt. Zur Darstellung der Entwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) von Bismarck bis heute reichen dem Gericht ganze drei Zeilen (Randnummer 5), bei der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) fünf Zeilen (Randnummer 24) […]. Den Blick in die demographische Zukunft, vom Beitragskinderurteil vorexerziert und wegen der massiven Auswirkungen der „Unterjüngung“ auf die intra- wie intergenerationelle Transfergerechtigkeit und über diese für das „Gleichgewicht und die Stabilität des Ganzen“ fundamental, vermeidet das Gericht vollständig.
Die maßgebenden Fachliteraturen […] obwohl von den Klägern lückenlos erwähnt und in wesentlichen Auszügen vorgetragen, blieben vollends unbeachtet. Genauso wenig fand eine Auseinandersetzung mit der eigenen einschlägigen Judikatur statt: Das Urteil vom 3.4.2001 („Beitragskinder“) mit den darin gewonnenen Einsichten hinsichtlich der Veränderungen der Bevölkerungsstruktur und entsprechend geschärftem Maßstab fand entgegen dem darin enthaltenen Prüfauftrag bei der materiellen Abhandlung der GRV und GKV keine Beachtung; es wurde stillschweigend – ohne jede Begründung! – fallengelassen. […]
Vollends zum Justizskandal macht den Beschluss die Tatsache, dass das Gericht trotz der Abkehr von seiner jahrzehntealten Rechtsprechung und trotz der milliardenschweren Bedeutung für rund 90 Prozent der Bevölkerung keine mündliche Verhandlung durchführte. Mangels Begründung der Abkehr vom Trümmerfrauen- und Beitragskinderurteil gibt es keinen Grund, dass das von diesen Urteilen geschaffene „Recht“ etwa nicht mehr gelten könnte. Der Beschluss ist zu einem frei erfundenen „Begehren der Kläger auf beitragsrechtliche Privilegierung“ ergangen. Darum ging es nie und geht es auch weiter nicht. […]
Wenn landauf, landab die Sozialgerichte also nun auf die Rücknahme der noch laufenden Verfahren drängen, besteht keinerlei Veranlassung dem stattzugeben. Vielmehr gilt es nun, die vorstehende Analyse überall auf dem Rechtsweg zu verbreiten, um dem Bundesverfassungsgericht selbst Gelegenheit zu geben, sein skandalöses Fehlurteil baldmöglichst wieder aus der Welt zu schaffen. […]. Wir haben nicht die geringste Veranlassung, klein beizugeben, sondern alle Veranlassung, dieser Willkür und diesem Übergriff der acht Richter auf die Leben unserer Kinder entschieden und geschlossen entgegenzutreten.
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