Die „Zugrunde-Richter“ Teil 1

Beitragsbild Kinderrechte

…oder: Wie geht es weiter mit den „Elternklagen“? Zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. April 2022 (1 BvL 3/18 u.a.)Von Jürgen Borchert aus der fh 2/23

 

Vorbemerkung: Ende Mai 2022 veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht einen bereits am 7. April (2022) gefassten Beschluss zur Bemessung der Beiträge von Eltern in den Sozialversicherungen. Geklagt hatten Eltern, weil sie in der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ebenso hohe Beiträge wie Versicherte ohne Unterhaltspflichten für Kinder („Kinderlose“) zahlen müssen. Die Kläger sehen sich damit überproportional belastet, insofern sie über ihre monetären Beiträge hinaus mit der Kindererziehung einen generativen Beitrag für die Sozialversicherungen erbrächten. Für die umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme sei dieser generative Beitrag konstitutiv, insofern der Unterhalt für die Älteren immer von der nachwachsenden Generation geleistet würde.

Gegenwärtig wirkt sich lediglich in der Pflegeversicherung die Kindererziehung für Versicherte (minimal) beitragsmindernd aus. Aktuell liegt hier der Beitragssatz für Eltern bei 3,05 Prozent des Bruttoeinkommens, für Kinderlose bei 3,4 Prozent. Zu einer Differenzierung zwischen Eltern und Kinderlosen war der Gesetzgeber durch ein Urteil des Bundesverfassungsgericht 2001 (BVerfGE 103, 242-271) gezwungen worden, dass als „Pflegeurteil“ oder als „Beitragskinderurteil“ bezeichnet wird. In diesem Urteil ging das das Bundesverfassungsgericht von der „konstitutiven Bedeutung“ der Erziehungsleistung für die umlagefinanzierte soziale Pflegeversicherung aus. Zusätzlich zu ihren Beiträgen erbrächten Eltern mit der Kindererziehung einen „generativen Beitrag“ zum Systemerhalt. Im Versicherungsfall erwachse so Versicherten ohne Kinder ein Vorteil aus „der Erziehungsleistung anderer beitragspflichtiger Versicherter“.

Die nominell gleiche Belastung mit Versicherungsbeiträgen führe im Ergebnis zu „einem erkennbaren Ungleichgewicht zwischen dem Gesamtbetrag, den Kindererziehende in die Versicherung einbringen, und dem Geldbetrag von Kinderlosen“. Es sei deshalb mit Art. 3 Abs. 1 (Gleichheit vor dem Gesetz) in Verbindung mit Art.6Abs.1GG (besonderer Schutz von Ehe und Familie) nicht zu vereinbaren, dass kindererziehende Versicherte mit einem (nominell) gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag belastet würden (BVerfGE 103,24).

Mit dieser Argumentation knüpfte das Bundesverfassungsgericht an sein schon 1992 ergangenes „Trümmerfrauenurteil“ an, das eine Berücksichtigung des generativen Beitrags der Kindererziehung im Rentenrecht verlangte (BVerfGE 87, 1). Mit den seit 2005 geringfügig erhöhten Beiträgen für Kinderlose in der Pflegeversicherung hat der Gesetzgeber das Beitragskinderurteil in einer Minimalform umgesetzt. Der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, die Benachteiligung von Eltern im Sozialversicherungssystem zu verringern, wurde faktisch ignoriert.

Diese Untätigkeit beanstandeten die Kläger in ihrer umfassend begründeten Eingabe an das Bundesverfassungsgericht. Ihre Argumentation stützt sich auf die Funktionslogik der umlagefinanzierten gesetzlichen Sozialversicherungen. Aus dieser ergibt sich unvermeidlich, dass kinderlose Ältere von Kindern versorgt werden müssen, die andere Angehörige ihrer Generation aufgezogen haben. Dieser „generative Beitrag“ von Eltern muss aus Sicht der Kläger innerhalb des Sozialversicherungssystems berücksichtigt werden, damit Familien (die Eltern wie ihre Kinder) nicht in verfassungswidriger Weise benachteiligt werden.

Das Urteil vom April 2022 war für sie enttäuschend. Korrekturbedarf sah das Verfassungsgericht lediglich in der sozialen Pflegeversicherung. Hier beanstandete es die Verbeitragung von Eltern als verfassungswidrig, weil der höhere Aufwand von Eltern mehrerer Kinder gegenüber Eltern mit nur einem Kind nicht berücksichtigt werde (da beide gleich hohe Beiträge zahlen).

Während es in den früheren Urteilen um die Lastengerechtigkeit zwischen Eltern und Kinderlosen ging, wird jetzt zwischen Eltern (mit unterschiedlicher Kinderzahl) differenziert. Das Koordinatensystem des Verfassungsgerichts hat sich fundamental verschoben. Von der konstitutiven Bedeutung des generativen Beitrags für die Sozialsysteme ist keine Rede mehr. Die bisherige Verfassungsrechtsprechung zur Rolle der Kindererziehung für die Sozialsysteme wird ausgehebelt. Im Gegensatz zu seiner früheren Rechtsprechung behauptet das Bundesverfassungsgericht, dass es bereits einen „hinreichenden Nachteilsausgleich“ für Eltern geben würde. Verwiesen wird insbesondere auf die Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung. In der Klageschrift selbst wurde bereits vorgerechnet, dass die Erziehung von 15 Kindern erforderlich wäre, um mit diesen Kinderberücksichtigungszeiten Ansprüche in Höhe einer Standardrente zu erwerben. Die Kläger argumentieren weiter, dass die vom Bundesverfassungsgericht sogenannten „Nachteilsausgleiche“ für Eltern aus dem allgemeinen Steueraufkommen und damit größtenteils von den Familien selbst finanziert wird. Ihre Kritik an den Verteilungswirkungen der gesetzlichen Rentenversicherung und auch der Krankenversicherung wird von den Klägern mit ökonomischer Expertise untermauert.

Dass die Kläger ihre Rechtsauffassung durch detaillierte Berechnungen und wissenschaftliche Gutachten namhafter Experten begründet haben, scheint das Bundesverfassungsgericht nicht beeindruckt zu haben. Für die Entscheidungsfindung spielten ihre Argumente jedenfalls keine Rolle. Wer für eine Besserstellung von Eltern im Sozialversicherungssystem kämpft, kann sich nicht mehr auf das Bundesverfassungsgericht berufen. Es dürfte noch schwieriger werden, in den politischen Verteilungskämpfen Lastengerechtigkeit für Familien einzufordern.

Wie dieses Urteil juristisch zu bewerten ist, analysiert der Sozialrechtsexperte Dr. Jürgen Borchert in seinem Beitrag „Die „Zugrunde – Richter“ oder: Wie geht es weiter mit den „Elternklagen?“ Zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. April 2022“ (https://elternklagen.de/wp – content/uploads/2022/11/221117_ Elternklagen_Endfassung_PDF.pdf).

Mit Zustimmung des Verfassers dokumentieren wird diese umfangreiche Analyse in Auszügen.

 

Lasten – und Leistungsgerechtigkeit für Familien im Sozialsystem: Worum es den Klägern geht

Klar, wir haben mit den Elternklagen angefangen, weil die Politik mit der Sozialversicherung ein gegenüber Kindern und Familien „strukturell rücksichtsloses“ Sozialsystem etabliert hat. Schon die Erfinder des neuen Systems haben vor der „Transferausbeutung“ gewarnt, welche die kurzsichtige Politik 1957 gegen den Rat der Fachleute […] ins Werk gesetzt hat: Es könne nur im vollkommenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Desaster enden, wenn man die Erträge der Kindergeneration für die Alten sozialisiere, die Kosten ihrer Aufbringung aber privatisiere. Der „Schreiberplan“, die Blaupause für die Rentenreform 1957, hatte auch die Kinderkosten mit einer balancierenden „Kindheitsrente“ vergesellschaften wollen; das hätte aber die Höhe der neuen Altersrente auf 50 Prozent der Bruttoeinkommen begrenzt. im Wahljahr 1957 wollte Bundeskanzler Konrad Adenauer die Rentner jedoch mit 60 Prozent beglücken und amputierte die Kinderrente deshalb kurzerhand aus dem Konzept. […]

Um diesen Kardinalfehler der Sozialisierung des Altenunterhalts bei gleichzeitiger Kinderaufbringung auf elterliche Privatkosten geht es. Im Interesse unserer Kinder und ihrer Generationen wollten wir durch die Elternklagen mit Hilfe des „Gleichgewichtsorgans Bundesverfassungsgericht“ die Ungerechtigkeiten beseitigen, unter denen die Kinder am meisten leiden. […]

 

Wie das Bundesverfassungsgericht seine frühere Rechtsprechung zur Bedeutung der Kindererziehung für die Sozialsysteme aushebelt

Nach 16jähriger Verfahrensdauer seit dem Rechtswegstart in 2006 beantwortet der Beschluss vom 7. April 2022 (1 BvL3/18) die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem „Beitragskinderurteil“ vom 3. April 2001 offengelassene und in der Literatur umstrittene Frage, ob dessen Einsichten betreffend die „konstitutive“ Bedeutung der Kindererziehung als „generativer Beitrag“ für den Systemerhalt auf die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) beitragsäquivalent zu übertragen sind, nun wie folgt (Leitsatz 3 Satz 2):

„In der gesetzlichen Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung begründet die gleiche Beitragsbelastung von Eltern und Beitragspflichtigen ohne Kinder keine Benachteiligung der Eltern, weil durch die rentenrechtliche Anerkennung von Kindererziehungszeiten und die beitragsfreie Familienversicherung im Krankenversicherungsrecht ein hinreichender Nachteilsausgleich erfolgt.“ […]

Obwohl das Gericht im weiteren Zusammenhang stets von „Nachteilen und deren Beseitigung/Ausgleich“ spricht, stellt es an den Anfang seiner Entscheidung die Behauptung, das Begehren der Kläger- und Beschwerdeführer ziele auf eine „beitragsrechtliche Privilegierung“ ab (Randnummer 2). Auffallend – und passend zu dieser Verkehrung des Begehrens und der Wirklichkeit – ist dann weiter die Tatsache, dass das Gericht im Begründungsteil des Beschlusses für die beiden vorgenannten Systeme (ab Randnummern 333 bis 367) jegliche Auseinandersetzung mit seiner vorangegangenen maßgebenden Rechtsprechung vermeidet, auf welche die Kläger sich gestützt hatten, nämlich das Beitragskinderurteil von 2001 und das „Trümmerfrauenurteil“ vom 7. Juli 1992.

Ersteres wird dort kein einziges Mal erwähnt und letzteres wird eingangs der Prüfung der GRV zwar zitiert, allerdings nur auszugsweise unter randscharfer Auslassung von dessen Feststellungen, welche das Gericht damals anhand des durch Art. 6 Abs. 1 GG scharf gestellten Gleichheitssatzes getroffen hatte: Zum einen betreffend die Familien benachteiligenden Strukturen des Rentensystems, welche sich aus der Negierung der Wirklichkeit des „Dreigenerationenvertrags“ ergeben (= Sozialisierung der Altenlast bei privatisierter Kinderlast im Rentenrecht); zum anderen werden jene Feststellungen ausgeklammert, welche die elterlichen Nachteile in den komplementären Zusammenhang der Vorteile auf Seiten der Kinderarmen stellen. Auf die Tatsachengrundlage der „Wirklichkeit des Dreigenerationenvertrags“ hatte das BVerfG bekanntlich seine […] Qualifizierung der Kindererziehung als den pekuniären Beiträgen prinzipiell äquivalenten „generativen und konstitutiven Beitrag für den Erhalt der Systeme“ gegründet. Mit der Folge des Verfassungsauftrags, ihm auf der Beitragsseite normativ Rechnung zu tragen, um Recht und Wirklichkeit in Einklang zu bringen. […]

Fortsetzung in FH 03/2023 unter diesem Link (Klick)

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