Verklemmt – schamfrei? Dekadent?

Beitragsbild: Gender

von Gertrud Martin aus der fh 2/23

 

In letzter Zeit erreichen uns vermehrt Mails, in denen Eltern einen zu „freien“ Sexualkundeunterricht ihrer Kinder kritisieren. Z B. schreibt uns eine Mutter: „In einem Gymnasium in NRW (CDU-geführtes Kultusministerium) werden Sechstklässler (11-12jährige) mit lupenreiner Ideologie ‚Sexuelle Vielfalt‘ indoktriniert und an die operative Geschlechtsumwandlung herangeführt. Auf den Arbeitsblättern mussten die Kinder lesen: ‚Jede*r hat das Recht auf eine eigene Geschlechtsidentität (…) . Egal ob cis, trans*, Mann oder Frau oder weder noch…‘ Außerdem sollten die Kinder üben, die Geschlechtsidentität zuzuordnen – mit Beispielsätzen wie „Zeynep fühlt sich im falschen Körper geboren. Sie*Er möchte sich so rasch wie möglich operieren lassen um endlich als Mann leben zu können.“

Die empörte Mutter hatte die Arbeitsblätter ins Netz gestellt und damit für mediale Aufregung gesorgt.
Ohnehin ist die doch entscheidende Frage, was mit einer operativen Geschlechtsumwandlung tatsächlich bewirkt werden kann: Bleibt sie auf reine Optik beschränkt, oder inwieweit kann eine „normale“ Funktion erreicht werden?

Heute 80jährige können im Rückblick auf ihre Lebenszeit in unserer Gesellschaft einen wesentlichen Wandel im Umgang mit und in der Bewertung der menschlichen Sexualität feststellen. Als Kinder wurden sie auf „Keuschheit“ verpflichtet, wobei weitgehend ungeklärt blieb, was damit genau gemeint sei. Die Mädchen sollten ihre „Unschuld“ bewahren, „unberührt“ in die Ehe gehen, was bedeutete, dass ein Zusammenleben mit einem Freund oder auch Verlobten ganz ausgeschlossen war. Viele Eltern konnten sich nicht dazu durchringen, ihre halbwüchsigen Kinder aufzuklären. Aber ein uneheliches Kind war eine Katastrophe, seine Mutter ein „gefallenes Mädchen“ oder eben ein Flittchen. Der Begriff „Missbrauch“, der heute – inclusive aktuellen Fallbeispielen – fast tägliches Thema in der Presse ist, war unbekannt. Dabei steht allerdings außer Frage, dass dadurch die allfällige Diskussion darüber unterm Teppich gehalten wurde. Die Praxis wurde beschwiegen. Aber eine Reform wurde immer zwingender.

Ein gewisser Helmut Kentler (1928-2008), Psychologe, Sexualwissenschaftler und Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hannover, war ein Bahnbrecher mit seinem Konzept „Sexualerziehung der Vielfalt“. Wikipedia dazu: „Jahrzehntelang haben Berliner Jugendämter im Rahmen des ‚Kentler-Experiments‘ Kinder in die ‚Obhut‘ pädophiler Straftäter gegeben, die diese sexuell missbrauchten. Diese skandalöse Praxis wurde von höchster politischer Ebene gedeckt……“ und: „Das ‚Kentler-Experiment‘ hat einen wesentlichen Anteil daran, dass Pädophilie in gewisser Weise gesellschaftsfähig geworden ist…“ und weiter: „Seit Anfang der 1990er-Jahre ist Kentler mit seiner sexualpolitischen Position mit seinen Schriften und seiner praktischen Tätigkeit zur aktiven Förderung von Pädosexualität kritisiert worden. Er nutzte seine Macht aus, um die Kontrolle über Fallführungen am Berliner Jugendamt zu übernehmen, mit vielfacher ‚Kindeswohlgefährdung in öffentlicher Verantwortung‘ als Folge.“

Im Rahmen des „Kentler-Experiments“ wurden vom Berliner Jugendamt zwischen 1960 und 2001 Jungen von Jugendämtern an vorbestrafte Pädophile vermittelt. Kentler nahm selbst neun Kinder bei sich auf, von denen er mindestens zwei sexuell missbrauchte. Er propagierte diese Praxis als „notwendigen Teil einer gesunden Sexualerziehung“. 1989 veröffentlichte er selbst ein Gutachten, das die Mitwirkung und Mitschuld des Landes Berlin belegt.

Wie sehr die einst „heile Welt“ aus den Fugen geraten ist, wird besonders deutlich an der „Aufarbeitung“ mit der sich die katholische Kirche aktuell zu befassen hat, deren Vertreter sich dank ihrer Verpflichtung zum Zölibat oft schwerer Anfechtungen erwehren mussten und müssen.

Bei e-bay zum Preis von € 155,- bzw. 198,62 immer noch erhältlich ist das Buch „Zeig mal!“, ein mit voyeuristisch-aufreizenden Fotos ausgestattetes Aufklärungsbuch für Kinder und Eltern, das 1974 von dem der evangelischen Kirche nahestehenden Jugenddienst-Verlag Wuppertal herausgebracht wurde, mit einem Vorwort von Kentler. Bis 1995 erschien es in mehreren, zum Teil erweiterten Auflagen, bis es wegen Kritik vom Markt genommen wurde. Angemerkt sei, dass sachlich gestaltete Aufklärungsbücher eine begrüßenswerte Hilfe für Eltern sind.

Unter den Verirrungen jener Zeit leidet unsere Gesellschaft noch heute. Es gelingt ihr kaum, einen goldenen Mittelweg zu finden zwischen Verklemmtheit und Schamlosigkeit. Das scheint übrigens eines der Kennzeichen zu sein, das den Niedergang früherer Hochkulturen begleitet hat. Sammelbegriff: „Dekadenz“.

Es ist sicherlich richtig, wenn die Kinder in der Schule lernen, die Geschlechtsorgane korrekt zu bezeichnen und ihre Funktion zu kennen. Und es ist wichtig, sie auf die Abwehr drohenden Missbrauchs zu konditionieren. Aber es ist fragwürdig, sie vor der Geschlechtsreife über Verhütungsmittel und abweichende Geschlechtszuordnungen aufzuklären, sie zu ermuntern, ihr eigenes Geschlecht in Frage zu stellen und in der Absicht des Lustgewinns ihre Geschlechtsorgane zu „erkunden“. 

 

Anmerkung des Verbandsvorsitzenden Dr. Joh. Resch:

„Der Inhalt dieses Beitrags gibt die persönliche Ansicht der Autorin wieder.

Zum Thema „sexuelle Vielfalt“ gibt es keine offizielle Stellungnahme unseres Verbandes, da es sich um einen Fragenbereich handelt, der in den Entscheidungsbereich der Eltern fällt. Wir vertreten als Verband die Auffassung, dass wir zu diesem Thema auch unterschiedliche Auffassungen von Eltern zu achten haben. Das gilt sowohl für die hier dargestellte Sichtweise, die im Gegensatz zur gegenwärtigen Politik steht, als auch für zustimmende Ansichten. Aber gerade weil die Auffassungen der Eltern unterschiedlich sein können, ist es unsere Aufgabe als Verband, deren Entscheidung zu tolerieren. Deshalb wenden wir uns gegen die staatliche Vorgabe einer „Pädagogik der sexuellen Vielfalt“. Und auch deshalb setzen wir uns für eine Gleichberechtigung bei der Finanzierung der elterlichen Kinderbetreuung ein, um eben der einseitigen Beeinflussung der Kinder ohne Berücksichtigung der elterlichen Meinung entgegenzuwirken.

LeserInnen, die eine andere Auffassung vertreten als die Autorin, fordern wir auf, seine/ihre Sicht in den Kommentaren dieses Beitrags darzulegen mit der Bedingung, dass nicht versucht wird, die Vorgaben des Staates über die Ansichten der Eltern zu stellen. Der Staat hat keine Ideologie vorzugeben, sondern lediglich strafbare Handlungen zu sanktionieren. Zustimmende oder kritische Leserbriefe zu diesem Beitrag sind also durchaus willkommen.“

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