Was bleibt … Gedankensplitter zum neuen Jahr (Fh 2008/4)

von Julia Berendsohn

Vieles hat sich für Eltern und Kinder nicht nur verändert, seit ich 1996 von Monika Bunte in einem netten Brief eingeladen wurde, unseren Verein zu unterstützen, sondern sogar verbessert. Aber es bleiben ein paar bunte Zettel liegen, die ich ab und zu voll kritzelte, Zettel, die nun wie welke Herbstblätter von meinem Schreibtisch flattern und schnell noch einmal durchgesehen werden wollen, bevor sie in den Papierkorb fallen. Letzteres nennt man heutzutage gern „entsorgen“, „recycling“ oder „kompostieren“. Und vielleicht kann ich ja mit den folgenden Schnipseln wirklich ein paar Bedenken vom Tisch fegen oder sie so wiederverwerten, dass sie ein bisschen fruchtbaren Humus abgeben, für das, was noch vor uns liegt.

DIE KINDER.Wer fragt sie schon, was sie wollen, gern haben, vermissen? In der Hamburger Grundschule, in der ich vorlese, gab es viele heimliche Tränen und Trostgespräche, als der Ganztagsbetrieb anrollte. Fast alle, die angemeldet wurden, wären nachmittags lieber nach Hause gegangen. Sie wollten so gern zu dem neuen Baby oder den Katzen, Hunden und Meerschweinchen, wollten mit ihren Freunden im eigenen Zimmer oder auf dem Hof spielen, allein Bücher angucken oder malen, mit Mama oder Papa, Oma oder Opa essen, einkaufen, spazierengehen, klönen und schmusen. Aber sie sind schon sehr vernünftig und verstehen es, wenn man ihnen erklärt, dass die Eltern „arbeiten gehen müssen“ und froh sind, nun die Schule bis 16 Uhr offen zu wissen. Kinder von Alleinerziehenden sind durch die Trennung/Scheidung sowieso ziemlich angespannt, traurig oder gar verzweifelt. Manche kauen auf den Fingern, andere haben immer wieder Bauchweh oder Kopfschmerzen, Neurodermitis oder Herpesbläschen. Sie sind oft zu kalt angezogen, verschleppen und verschlimmern Krankheiten, weil sie nicht gleich zu Hause behandelt werden, haben vielleicht kein Frühstück gekriegt und nicht genug zu essen mit. Sie sind vielfach übermüdet, gucken abends noch im TV Filme an oder laufen in Grüppchen durch die Straßen und kommen zu spät ins Bett. Sie haben ein Riesenbedürfnis nach körperlicher wie seelischer Zuneigung. Erzählen wollen sie, zuhören, spüren, dass jemand sich kümmert, sich für sie interessiert, Zeit hat. Wie schön wäre es, wenn alle Kinder langsam in Geborgenheit aufwachsen könnten und mindestens eine Bezugsperson immer bei ihnen wäre. Ohne dass die Familie dafür finanziell benachteiligt würde. Ohne dass jemand über „Herdprämien“ lästerte.

DIE MINDERHEITEN. Natürlich können Kinder auch vernachlässigt werden, wenn jemand zu Hause bleibt. Unterprivilegierte Ausländer, depressive Arbeitslose, unfähige Teenager, Drogensüchtige, Kranke, Dumme, Böse … die Liste ist lang, aber die Gruppe Betroffener ist klein. Sicher: Jungs und Mädchen aus solchen Familien muss geholfen werden. Gute Ganztagsbetreuung ist dann bestimmt eine Antwort. Wobei man sich allerdings entscheiden muss, ob man nun „die Eltern mitnehmen“ oder dann doch lieber „nicht verurteilen“ will, wie es mal so, mal anders aus lauter (bzw. leiser) Angst vor ehrlicher Kritik heißt. Denn ganz zu „Waisen“ sollte man diese wirklich armen Kinder ja nicht gleich und zwangsweise machen, wenn auch Pflegeeltern eine nützliche und oft liebevolle, manchmal lebensrettende Lösung sind. Väter und Mütter müssen lernen, was ihre Töchter und Söhne gesund und glücklich macht. Man muss es ihnen sagen. Sie begleiten. Auch regelmäßig kontrollieren. Es geht nicht um Meinungen. Es gibt objektive Grundlagen für das Wohlergehen eines Kindes. Von Anfang an. Krippen/Kindergärten/ Ganztagsschulen können helfen, aber nicht die Liebe ersetzen, die man braucht.

DIE BILDUNG. Wo und wie lernen wir? Es muss Interessantes angeboten werden, es muss Spaß machen. Aber das passiert ja nicht nur in staatlicher Obhut oder den Wohnungen der Tagesmütter. Zuallererst lernen wir mit Mama und Papa, in der Wärme der vertrauten Umgebung. Eins zu eins. Welche Krippe, welcher Kindergarten kann das leisten? Erzieher/innen sollen nun besser ausgebildet werden, um den Kleinen mehr Wissen anzubieten und sie vielfältig anzuregen. Aber das können auch Mütter und Väter und Großeltern, besonders, wenn sie selber gebildet und erfahren sind. In den USA und Großbritannien darf man die eigenen Kinder sogar selber unterrichten, solange jährliche Prüfungen durch die Schulbehörde den Erfolg bestätigen.

DIE MÜTTER. Wer fragt eigentlich mal, warum sie schwanger werden wollen? Doch sicher nicht wegen der Rente oder damit die Nation nicht ausstirbt? Wir sind Tiere und haben ein biologisches Bedürfnis nach Fortpflanzung, das dann „Liebe“ (Eros, Sex) genannt wird. Durch Verhütungsmittel gibt es nun aber eine Wahl und damit ein Entscheidungsproblem. Gefühle kann man seitdem aufschieben, Kinderkriegen ganz rational angehen, Verantwortungsängste entwickeln. Aber wenn man sich trotzdem durchgerungen hat, sich mutig und neugierig dem Abenteuer Baby ausliefern will, wächst mit den Hormonen auch die Freude auf das kleine, neue Wesen und endet in einem überwältigenden Verliebtsein bei oder bald nach der Geburt. Wozu also Babys machen, wenn wir sie so schnell wie möglich wieder weggeben müssen/sollen/ wollen? An andere, fremde Leute! Das tut weh, dagegen sträubt sich alles, das läuft quer zum Instinkt. Jedes Säugetier lässt seinen Nachwuchs mehr oder minder langsam von sich los in die Welt. Das beglückende Beisammensein von Eltern und Kleinkind müssen wir mit aller Kraft ermöglichen und unterstützen, finanziell wie verbal. Damit jede(r) selbst entscheiden kann, wann und wie eine tägliche Trennung wünschenswert wird.

DIE VÄTER. Warum werden die Väter so hoch gelobt, die sich neuerdings für ein paar Monate um Baby und Haushalt kümmern („opfern“, wie es gern genannt wird)? Es ist ungerecht und verletzend, wenn Mütter für die gleiche Arbeit – und meistens für sehr viel länger – kritisiert oder gar diffamiert werden. Väter „kleben“ anscheinend nie „am Herd“, sondern „kochen kreativ“, sie verpassen nicht „Karrierechancen“, sondern lernen „Organisationstalent“ und „emotionale Intelligenz“; sie „glucken“ nicht über dem Kind und „ersticken“ es nicht „in Umarmung“, sondern fördern es durch „männliches Vorbild“ auf dem Weg zur „Selbstständigkeit“. Allerdings merken Papas nun auch, dass man drei Berufe gleichzeitig nicht gut hinkriegt und im Balancieren von Job, Haushalt und Betreuung ziemlich erschöpft zurückbleibt.

„THE ECONOMY, stupid“(1)? Der heimliche Hebel großer ideologischer Wandlungen! So hat man z.B. in Finnland ein Betreuungsgeld eingeführt, weil die Geburtenziffern für jede gesicherte Planung staatlicher Bildungseinrichtungen zu sehr schwankten. Und auf Island wurde das Kitasystem massiv ausgebaut, weil Frauen dort im Schnitt nur zwei Drittel des männlichen Lohns bekommen und – bis vor kurzem – die Wirtschaft boomte (2). Auch bei uns ist ein Zugpferd bei Gleichstellungsaktionen immer die Wirtschaft gewesen.

DIE ZIELE. Wahre Selbstständigkeit wächst aus emotionaler Sicherheit. Kreativität aus Ruhe und Anregung im Gleichgewicht. Gesundheit für Eltern und Kinder gedeiht in einem stressfreien Umfeld, ohne Druck, ohne Angst. Klima, Natur und Ressourcen werden am wenigsten belastet, wenn wir bescheidener und solidarischer leben und wieder mehr mit Hand und Fuß, ohne Maschinen machen und bewegen. Wir wären zufriedener und entspannter, weniger neidisch, konsumorientiert und aggressiv. Auch klüger natürlich, denn zum Lesen und Nachdenken benötigt man Zeit. Und wir würden nicht mehr in den falschen Nischen nach dem Sinn des Lebens suchen. (Auch nicht in meinem Papierkorb, der jetzt endlich geleert wird.)

Fußnoten:
1) „It’s the economy, stupid“ – frei übersetzt: „Es kommt auf die Wirtschaft an, Dummkopf“: berühmter Leitsatz der Clinton-Wahlkampagne USA 1992
2) Ursula von der Leyen & Maria von Welser, Wir müssen unser Land für die Frauen verändern. Goldmann Verlag, Taschenbuch 2008. ISBN 978-3-442-15501-9

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