Leben wir in einem Rechtsstaat? (Fh 2014/3)

von Dr. Johannes Resch

In der Mitgliederzeitschrift unseres Verbandes wurde bereits mehrmals auf das seit 2007 geltende Elterngeldgesetz eingegangen (Fh 1/2013; Fh 2/2014). Grund ist, dass ausgerechnet in diesem Gesetz die Geringschätzung der Erziehungsarbeit besonders deutlich zum Ausdruck kommt. So erhalten erwerbstätige Eltern bei einem ersten Kind ein Elterngeld von bis zu 1.800 €/Monat für ein Jahr. Hat dagegen der beantragende Elternteil beispielsweise im Jahr vor einer vierten Geburt drei bereits vorhandene Kleinkinder betreut, erhält er nur 375 € (Mindestbetrag + „Kinderbonus“). Obwohl die Betreuung von drei Kleinkindern in der Regel arbeitsaufwendiger ist als eine Erwerbstätigkeit ohne gleichzeitige Verantwortung für Kinder und obwohl die 4-Kind-Familie das Geld in der Regel notwendiger braucht, wird sie im Vergleich zu einer Ein-Kind-Familie mit einem Bruchteil des Geldbetrages abgefunden. Eine krassere Missachtung der Erziehungsarbeit ist eigentlich gar nicht vorstellbar. Diese gezielte Diskriminierung der Eltern mehrerer Kinder wird vom Bundessozialgericht mit einer „Einkommensersatzfunktion“ des Elterngeldes begründet. Die Frage, ob diese mit dem Grundgesetz vereinbar ist, wird aber gar nicht gestellt.

Da nach unserer Überzeugung der Gesetzgeber hier klar und massiv sowohl gegen Artikel 3 des Grundgesetzes (Gleichheit vor dem Gesetz) als auch gegen Artikel 6 (Schutz der Familie) verstößt, hat unser Verband mehrere Verfassungsbeschwerden von betroffenen Eltern unterstützt. Diese wurden bisher – wie Beschwerden von anderer Seite auch – von einer Kammer des Bundesverfassungsgerichtes (drei Richter/innen) „nicht zur Entscheidung angenommen“. Damit ist der Rechtsweg in Deutschland erschöpft. Nachdem wir aber überzeugt sind, dass die „Lohn­ersatzfunktion“ des Elterngeldes auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (Artikel 8 und 14, vgl. Fh 2/2014) verstößt, unterstützt unser Verband eine benachteiligte Mutter bei einer Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
„Nichtannahmebeschlüsse“ einer Kammer des Bundesverfassungsgerichts brauchen nicht begründet zu werden. Die ersten ablehnenden Beschlüsse wurden allerdings begründet. Darin stellt die Kammer zwar selbst fest, dass das Elterngeldgesetz zu einer Ungleichbehandlung führt. Diese sei aber „verfassungsrechtlich gerechtfertigt“. Die Bemessung des Elterngeldes beruhe auf „Sachgründen, die hinreichend gewichtig sind, um die Ungleichbehandlung grundrechtlich zu rechtfertigen“ (1 BvR 1853/111, Randnummern 9 und 14) (1).

Bei den „Sachgründen“ übernimmt die Kammer kritiklos die in einer früheren Bundestagsdrucksache gemachten Angaben (BT-Drucksache 16/1889, S. 15), ohne überhaupt zu prüfen, ob die dort gemachten Ausführungen stichhaltig und darüberhinaus geeignet sind, die bestehende Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.

Als Elternverband sind wir der Auffassung, dass die angeführten „Sachgründe“ schon bei einfachen, auch Nichtjuristen zugänglichen logischen Überlegungen als falsch erkennbar sind. Deshalb haben wir trotz der vorliegenden „Nichtannahmebeschlüsse“ eine weitere betroffene Mutter dabei unterstützt, mit entsprechender Begründung eine weitere Verfassungsbeschwerde einzulegen (siehe Auszug aus der Beschwerdeschrift im Anhang), die wir mit ihrem Einverständnis veröffentlichen.

Die angeführten „Sachgründe“ wären sogar durchweg geeignet, eine Besserbehandlung von Familien mit mehreren Kindern zu rechtfertigen, keinesfalls aber eine Schlechterstellung. Wir sind gespannt, in welcher Weise die zuständige Kammer darauf eingeht oder ob sie sich, wie bereits in einigen anderen Kammerbeschlüssen geschehen, nur darauf beruft, dass eine Begründung nicht erforderlich sei.
Immerhin zielen die angeführten „Sachgründe“ vorgeblich darauf ab, den Entschluss zu einem Kind zu erleichtern und damit dem Geburtenrückgang entgegenzuwirken. Das ist ein legitimes Ziel des Staates. Es wurde aber in der Beschwerdeschrift (siehe Anhang) aufgezeigt, dass die Berechnungsmethode des Elterngeldes gar nicht geeignet sein kann, diesem Ziel gerecht zu werden, sondern vielmehr kontraproduktiv ist.
Aber selbst wenn die „Sachgründe“ nicht nur ein vorgeschobener Vorwand gewesen sein sollten, dann ist heute, nach fast 7-jähriger Laufzeit des Elterngeldgesetzes, deutlich, dass das angestrebte Ziel nicht erreicht wurde. Damit verlieren die „Sachgründe“ auch formal ihre Funktion als Rechtfertigung der Ungleichbehandlung. Schon unter diesem Gesichtspunkt sollte die zuständige Kammer ihre bisherigen Beschlüsse überdenken.

Je mehr Jahre nach Einführung des Gesetzes vergehen, desto deutlicher wird, dass es die angeblich angestrebten Zielvorstellungen nicht erreicht hat und damit auch die vorgebliche Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung selbst dann entfällt, wenn man sie anfangs für sachlich begründet gehalten haben sollte. (1)

Fußnote:
1) BVerfG, 1 BvR 1853/11 vom 9.11.2011, Absatz-Nr. (1–22), http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20111109_1bvr185311.html

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ANHANG:
Zitat aus der vom Verband Familienarbeit e.V. geförderten Verfassungs­beschwerde, S. 16–17*
: (Hervorhebungen durch die Redaktion)

Unter Rnn 15, 16 (bezogen auf den Kammerbeschluss 1 BvR 1853/11) werden unter Bezugnahme auf die Bundestagsdrucksache 16/1889 als Absicht des Gesetzgebers aufgeführt:

  • er wolle „insbesondere darauf reagieren, dass Männer und Frauen sich immer später und seltener für Kinder entscheiden“,
  • für viele Männer und Frauen seien „finanzielle Unsicherheit und Brüche in der Berufsbiographie Gründe, ihren Kinderwunsch nicht zu verwirklichen“,
  • die Einkommensbezogenheit des Elterngeldes solle „finanzielle Unsicherheiten verhindern, die eine Hinauszögerung des Kinderwunsches verursache“,
  • das Elterngeld wolle „Einkommensunter­schiede zwischen kinderlosen Paaren und Paaren mit Kindern abmildern“ (Rn 16).

Zum ersten Punkt:
Die Einkommensbezogenheit des Elterngeldes stellt besonders für junge Paare einen Anreiz dar, eine erste Geburt hinauszuzögern bis ein höheres Einkommen erzielt wird. – Die gezielte Diskriminierung von Eltern mehrerer Kinder durch die Einkommensbezogenheit erschwert den Entschluss zu einem zweiten oder weiteren Kind. – Die Einkommensbezogenheit des Elterngeldes wirkt so in Bezug auf beide unter dem ersten Punkt aufgeführten Zielvorstellungen ausgesprochen kontraproduktiv.

Zum zweiten Punkt:
Es trifft zu, dass Eltern gegenüber der Restgesellschaft wirtschaftlich benachteiligt sind, weil ihre Erziehungsleistung aufgrund unseres Sozialsystems der gesamten Gesellschaft zugutekommt, ohne dass sie selbst eine angemessene Gegenleistung dafür erhalten (siehe oben zitierte BVerfGE 87, 1). Diese Benachteiligung steigt mit der Zahl ihrer Kinder. Damit sind auch „finanzielle Unsicherheit und Brüche in der Berufsbiographie“ größer, je mehr Kinder vorhanden sind. Somit wäre eine Begünstigung der Eltern mehrerer Kinder sachlich zu rechtfertigen, keinesfalls aber eine zusätzliche Benachteiligung, wie sie aufgrund der Einkommensbezogenheit des Elterngeldes erfolgt.

Zum dritten Punkt:
„Finanzielle Unsicherheiten, die ein Hinauszögern des Kinderwunsches verursachen“, sind besonders groß, wenn junge Eltern (z.B. Studenten) noch über kein Einkommen verfügen oder wenn ein Elternteil wegen der Betreuung bereits vorhandener Kleinkinder kein oder nur ein vermindertes Einkommen erzielen kann. Ausgerechnet in diesen Fällen werden die Eltern mit dem Minimalbetrag abgefunden, während Eltern, deren finanzielle Unsicherheiten weit geringer sind, in der Regel ein Mehrfaches an Elterngeld erhalten.

Zum vierten Punkt:
Die Einkommensunterschiede von Eltern zu Paaren ohne Kinder steigen mit der Kinderzahl und sind im Schnitt bei kinderreichen Eltern besonders groß. Das zeigen auch alle amtlichen Armutsberichte. Wenn die Einkommensunterschiede gemildert werden sollen, wäre ein mit der Kinderzahl steigendes Elterngeld zu rechtfertigen, keinesfalls aber eine Minderung, wie sie durch die Einkommensbezogenheit erzwungen wird.

Diese Aufzählung zeigt, dass alle in der Bundestagsdrucksache aufgeführten „Sachgründe“ die Einkommensbezogenheit des Elterngeldes nicht nur nicht rechtfertigen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Einkommensbezogenheit des Elterngeldes wirkt in Bezug auf diese „Sachgründe“ sogar gegenläufig. Die vom Gesetzgeber angeführten und von der Kammer des BVerfG übernommenen „Sachgründe“ sind somit in keiner Weise geeignet, die Ungleichbehandlung von unterschiedlichen Elterngruppen durch die Einkommensbezogenheit des Elterngeldes zu rechtfertigen.“

* Die vollständige Beschwerdeschrift ist auf unserer Homepage zu lesen unter
https://familienarbeit-heute.de/wp-content/uploads/VF_Verf-Beschwerde_Elterngeld_Mehrkindfamilie_2014-09-15.pdf

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