Kommentar zum Beitrag „Irrt die Bindungstheorie?“

Jenniffer Ehry-Gissel

von Marion Ulherr aus der fh 3/24

Lesen Sie zunächst den Artikel „Irrt die Bindungstheorie?“ 

 

Hier mal ein wissenschaftlich völlig unfundiertes Statement zur Bindungstheorie, basierend ausschließlich auf langjähriger Berufserfahrung in der Kitabetreuung.

Es gibt Kinder, die marschieren vom ersten Tag an selbstbewußt in die Kita, weinen Mutter oder Vater nicht eine Träne nach und genießen den Trubel und dass „immer was los ist“. Sie schließen schnell Freundschaften und agieren recht unabhängig von den anwesenden Erzieherinnen. Am Wochenende oder in den Ferien „nerven“ sie ihre Eltern mit der ständigen Frage, wann sie denn endlich wieder in den Kindergarten dürfen.

Es gibt Kinder, die marschieren von Anfang an ebenso selbstbewußt in die Kita. Nach zwei/drei/vier Wochen, wenn der Reiz all des überwältigend Neuen sich ein wenig abgenutzt hat und sich eine gewisse Routine einschleicht, realisieren diese Kinder zum ersten mal so richtig, daß sie sich von ihrer engsten Bezugsperson trennen müssen. Das sind die Kinder, die sich dann plötzlich morgens beim Bringen an Mamas oder Papas Bein klammern und sich von der Erzieherin wegdrehen. Man erkennt sie auf einmal nicht wieder. Bei diesen Kindern beginnt die Eingewöhnungsphase sozusagen mit Verzögerung. Bei den einen klappt es schneller, bei den anderen dauert es länger und manche „gewöhnen“ sich zwar ein, erreichen aber nicht mehr das Level ihrer überschwänglichen Anfangszeit.

Dann gibt es die Kinder, die während und/oder nach der Verabschiedung von Mama oder Papa noch ein paar Tränen vergießen, sich aber schnell von der Erzieherin, anderen Kindern oder den mannigfaltigen Spielmöglichkeiten mitreißen lassen und ihren Trennungsschmerz rasch überwinden.

Manche dieser Kinder brechen aber in der Abholzeit, sobald sie ihre Eltern sehen, sofort wieder in Tränen aus. Diese Kinder zeigen, daß sie unbewußt doch den ganzen (Vormit-)Tag unter großer Anspannung standen, auch wenn man ihnen das oberflächlich betrachtet nicht angemerkt hat.

Es gibt aber auch Kinder, die ganz offensichtlich noch nicht bereit sind. Die sich schreiend an ihre Eltern klammern, die sich von niemandem sonst beruhigen lassen, die sich in ihrer Anfangszeit am liebsten unterm Tisch oder in irgendeiner „Höhle“ verkriechen und niemanden an sich heranlassen. Irgendwann arrangieren sich auch diese Kinder mit dem „Unausweichlichen“.

Aber nicht, weil sie nun tatsächlich einen Entwicklungsschritt vollzogen haben und emotional in der Lage sind, sich von ihrer engsten Bezugsperson zu lösen, sondern weil ihnen nichts anderes übrig bleibt.

Was sagt uns das jetzt über irgendwelche, wissenschaftlich mehr oder weniger umstrittene Bindungstheorien?

Meine ganz persönliche Erkenntnis daraus ist folgende:

  • Kinder sind Individuen, wie wir alle.
  • Keines gleicht dem anderen.
  • Sie sind geprägt durch unterschiedliche Faktoren wie Veranlagung, Familie, soziales Umfeld etc.

Ein Kind, das von Anfang an ein gesundes Urvertrauen entwickeln konnte, weil es empathische liebende, zugewandte Eltern hat, tut sich möglicherweise leichter schon mit zwei Jahren ein paar Stunden in einer Krippe zu verbringen, als ein Kind, das diesbezüglich mit größeren Unsicherheiten kämpfen mußte. Daß ein Kind in den ersten Lebensjahren ein stabiles Umfeld braucht, in dem es Liebe, Sicherheit und Geborgenheit erfährt, bestreitet sicher niemand. Daß es eher kontraproduktiv ist, wenn es allzu viele, häufig wechselnde Betreuungspersonen gibt, zwischen denen es hin und her gereicht wird, dürfte auch klar sein.

Die Crux ist doch, daß das aber kaum eine Rolle spielt. Kinder sollen heute, am besten schon Einjährig, einen Großteil ihres Tages in Krippen verbringen, weil:

1. ein Einkommen häufig nicht mehr reicht, um über die Runden zu kommen
2. die Ansprüche, was einen angemessenen Lebensstandard betrifft, gestiegen sind
3. die Arbeitgeber Eltern möglichst zügig wieder als Arbeitskräfte zur Verfügung haben wollen
4. eine völlig fehlgeleitete Gleichberechtigungsideologie herrscht, die sich ausschließlich an der Erwerbstätigkeit von Frauen orientiert und dabei völlig vernachlässigt, daß Frauen nun auch mal Mütter sind.

Die Bindungstheorie – egal wie man sie nun auslegt – spielt bei der Entscheidung darüber, ob und ab wann und wie lange Kinder heute eine Kita besuchen, kaum noch eine Rolle.

Es ist in unserer Gesellschaft schlicht egal, was die wirklichen Bedürfnisse der Kinder sind. Sonst müßte man nämlich bei jedem Kind individuell entscheiden und Eltern müßten ihr Leben eben auch danach ausrichten können, was gut für das jeweilige Kind ist. Das ist aber sowohl politisch als auch wirtschaftlich als auch gesellschaftlich nicht mehr erwünscht. Eltern wird, ideologiegetrieben, heute weisgemacht, es gäbe für Kinder nichts besseres, als möglichst frühzeitig von pädagogisch geschultem Personal professionell erzogen und gefördert zu werden. Frauen sollten sich nur ja nicht mehr auf eine Rolle als Hausfrau und Mutter „reduzieren“ lassen. Schon allein die Verwendung des Wortes „reduzieren“ in diesem Zusammenhang spricht Bände und zeigt die Geringschätzung für eine Tätigkeit, die essenziell für die Zukunft einer Gesellschaft ist.

Ich bin grundsätzlich der Meinung, daß sich Frauen auf gar nichts „reduzieren“ lassen müssen. Frauen sollten, gemeinsam mit ihrem Partner, frei entscheiden können, wie sie ihr Familienleben gestalten wollen. Niemand sollte finanziell in Schieflage geraten, weil er sich entschließt, die enorm wichtige Aufgabe der Erziehung der eigenen Kinder selbst zu übernehmen und es ist völlig unerheblich, was Bindungsforscher dazu sagen.

Mir sagt nämlich mein gesunder Menschenverstand folgendes: Wenn ein Kind, das ab einem Jahr ganztägig in die Krippe gebracht wird, weil beide Eltern Vollzeit arbeiten, anfängt sich aus Kummer die Haare auszureißen, dann wird diese frühe, lange Trennung wohl eher nicht gesund für dieses Kind sein und den Eltern ist dringend anzuraten ihren Alltag so umzugestalten, daß mehr Zeit für ihr Kind bleibt.

Geht ein Kleinkind morgens fröhlich in die Kita und ist mittags oder nachmittags erschöpft aber zufrieden und erzählt aufgeregt von seinen Erlebnissen, dann ist wohl alles paletti.
Ist das Kind beim Bringen morgens still und ruhig und beim Abholen ebenso, dann liegt das vielleicht ganz einfach am Wesen des Kindes, es könnte aber auch daran liegen, daß es sich resigniert ins Unvermeidliche gefügt hat. Da wäre ein genaueres Hinschauen sicher nicht verkehrt. Die meisten Eltern kennen ihr Kind gut genug um zu spüren, ob etwas nicht stimmt.

Ist das Kind nach der Kita völlig aufgekratzt und überdreht, könnte es evtl. daran liegen, daß es vom Trubel, der Lautstärke und der Reizüberflutung, der es tagsüber ausgesetzt war, überfordert ist.

Man sieht – die Möglichkeiten wie Kinder auf frühe Fremdbetreuung reagieren können, sind mannigfaltig. Keines gleicht dem anderen. Deshalb lassen sich darüber m.E. auch keine pauschalen Aussagen treffen. Was für das eine Kind gut und richtig ist, ist für das andere eine Katastrophe.

Mein Fazit: Gebt Eltern die Möglichkeit individuell nach den Bedürfnissen der Kinder frei zu entscheiden, wie sie es familiär und beruflich handhaben wollen. Im Mittelpunkt dieser Entscheidung sollten keine finanziellen Zwänge stehen, sondern ausschließlich das Wohl der Kinder und ihrer Eltern. Ich weiß gar nicht, was es da immer so viel drumherum zu theoretisieren gibt.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert