Irrt die Bindungstheorie?

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Von Beri Fahrbach-Gansky aus der fh 4/23

„Mama, bei dir bleiben!“ Mit diesem Satz verkündeten meine Kinder, als sie klein waren, unmissverständlich ihr Bedürfnis nach „Mama“. Das ist Bindungsverhalten, das jede Mutter beobachten kann und nur zu gut kennt. Es ist John Bowlbys Verdienst dieses Bindungsverhalten wissenschaftlich untersucht und eine Theorie der Bindung entworfen zu haben.1

Heidi Keller schrieb einen Artikel mit dem Titel „Die fundamentalen Irrtümer der Bindungstheorie“.2 In einer sehr abwertenden, fast höhnischen Sprache diffamiert sie sehr zu Unrecht die Bindungstheorie als unwissenschaftlich und überwiegend falsch. Auf die wichtigsten Vorwürfe will ich hier eingehen. Kellers ständig wiederholte Behauptung, der Bindungstheorie mangele es an Definitionen und „wenige Kernannahmen“ seien „nicht logisch miteinander verknüpft“ – Bindungstheorie wisse sozusagen selber nicht, was sie aussage – ist einfach falsch. Gerade Bowlby selber war sehr akribisch und systematisch. Aber auch anderen, wie z.B. dem Ehepaar Grossmann, tut sie da sehr unrecht. „Bindung wird allgemeinverbindlich als emotionales Band zwischen zwei Menschen definiert“, behauptet Keller. Dazu im Gegensatz Bowlbys Definition: Das Band des Kindes zu seiner Mutter ist ein Produkt der Aktivität einer Anzahl von Verhaltenssystemen, die die Nähe zur Mutter als vorhersagbares Ergebnis haben.3 Die Bindungstheorie betrachtet und untersucht die Beziehung zwischen Bindungspersonen und Kind aus Sicht des Kindes. Das Bindungsbedürfnis gehört zur biologischen Ausstattung eines Kindes, wie „Hunger“, „Müdigkeit“, usw. Diese biologischen Systeme signalisieren ein Bedürfnis, das deren Befriedigung einleiten soll (z.B. Nahrungssuche und -aufnahme). „Es geht um die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes und zwar jenseits von ideologischen Denkmustern“4, wie Erika Butzmann schreibt. Ein weit verbreitetes Problem von Kommunikation ist, dass Dinge in Aussagen von anderen hineninterpretiert werden, die nicht gesagt wurden. So behauptet Keller, dass die Bindungstheorie dem Band zwischen Mutter und Kind Priorität einräume, den Vater aber ins Abseits dränge, und dass Bindungstheorie behaupte, „dass nur Erwachsene Bindungspersonen für kleine Kinder sein können“. Beides wurde nie behauptet. Sondern Bowlby selber schreibt: „As a matter of empirical fact there can be no doubt that virtually in every culture the people in question are most likely to be his natural mother, father, or siblings, and perhaps grandparents ….“ (Als eine Sache empirischer Fakten kann kein Zweifel bestehen, dass nahezu in jeder Kultur die fraglichen Personen (Anm: Bindungspersonen) mit höchster Wahrscheinlichkeit seine leibliche Mutter, Vater oder Geschwister oder vielleicht Großeltern sind. Übersetzt von mir). Außerdem ist es einfach Tatsache, dass die primären Bindungspersonen in fast allen Kulturen überwiegend die Mütter sind. Die Bindungstheoretiker thematisieren sehr wohl, dass Kinder sich auch an andere Kinder binden und dass sie sich sogar an Gegenstände binden können. Das sind die „Schmusedecken“ oder Schnuller, bei deren Fehlen das Kind „durchdreht“. So schiebt Keller alles Mögliche der Bindungstheorie unter, ohne es zu belegen, geschweige Quellen oder Personen zu nennen. Auffällig ist, dass sie von „Annahmen“ spricht. Damit suggeriert sie, dass Bindungstheorie blanke, frei erfundene Theorie sei, ohne Verankerung in der Realität. Es war aber gerade der Verdienst von Bowlby – im Gegensatz zur Psychoanalyse –, seine Theorien auf soliden wissenschaftlichen Boden gestellt zu haben.

Die Bindungstheorie beruht auf Versuchen, Beobachtungen, Studien an Tieren und Menschenkindern, auch in verschiedenen Schichten und Kulturen. Es wurde beobachtet, dass Kinder an eine ganz bestimmte Person bevorzugt und überhaupt Bindungsverhalten richten. Diese wird z.B. „primäre Bindungsperson“ genannt. Weitere Personen, an die ein Kind Bindungsverhalten richtet, z.B. wenn die primäre Bindungsperson nicht verfügbar ist, werden als „sekundäre Bindungspersonen“ bezeichnet. Beide wählt das Kind selber aus!

Das wurde immer wieder bestätigt, z.B. in Heimen, wo Kinder eindeutig eine Pflegeperson unter vielen bevorzugen oder bei gleichgeschlechtlichen Paaren, die sich die Betreuung halb/halb aufteilen, aber das Kind trotzdem ein Teil bevorzugt, usw. Mir ist nicht bekannt, dass das widerlegt wurde. Es geht auch nicht darum, wie viele Personen sich sonst noch um das Gedeihen eines Kindes bemühen. Mehrmals formuliert Keller Vorwürfe wie, die Bindungstheorie fordere die „vollständige Aufgabe der eigenen Bedürfnisse, …, wie es in der Bindungstheorie z.B. mit dem Sensitivitätskonzept vorgegeben ist.“ „Die Bindungstheorie geht jedoch davon aus, dass die beste Kommunikationsform exklusiv dyadisch ist, in der sich die eine erwachsene Bezugsperson ausschließlich auf ein Kind konzentriert und prompt, angemessen und sensitiv auf alle kindlichen Signale reagiert“ und sie konstruiere ein „Erziehungsideal“. Solche Forderungen sind mir nie begegnet. Diese Vorwürfe sagen vor allem viel über Kellers Wissenschaftsverständnis aus.

Die Wissenschaft erforscht aber die Wirklichkeit, stellt darüber Theorien auf. Es ist eigentlich nicht ihre Aufgabe etwas zu fordern noch irgendwelche Handlungsvorgaben zu machen, wie Keller das unterstellt. Das fällt in die Zuständigkeit anderer Disziplinen wie Pädagogik, Ethik, Politik, Recht, usw. Nehmen wir ein Beispiel: Frau Müller will spazieren gehen. Eine Untersuchung der Wirklichkeit ergibt, dass es regnet. Was sie für sich daraus ableitet, hat mit der Erforschung der Situation nichts mehr zu tun. Das ist Frau Müllers Entscheidung. Sie kann z.B. entweder einen Schirm mitnehmen, den Spaziergang verschieben oder beschließen, nie mehr spazieren zu gehen.

Dass diese zwei Dinge, die Forschungsergebnisse und welche Schlüsse/Konsequenzen daraus gezogen werden, in einen Topf geworfen werden, hat heutzutage Methode. Als gäbe es nicht viele Möglichkeiten auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu reagieren! Keller geht noch einen Schritt weiter und leitet aus diesen angeblichen Forderungen, Vorgaben weitere Vorwürfe ab, z.B. dass die Bindungstheorie „verantwortlich für das parental burnout“ sei. Eine wissenschaftliche Theorie für deren Folgen, alle möglichen gesellschaftlichen Entwicklungen verantwortlich zu machen ist nicht wissenschaftlich, oder nur dann wissenschaftlich, wenn man seine Aussagen z.B. im Rahmen einer soziologischen Studie genau benennt und belegt. Was Keller eben nicht tut. Schließlich zeigt sie mit diesen Vorwürfen, dass sie Grundlegendes der Bindungstheorie nicht verstanden hat. Das eine ist das Bindungsverhalten des Kindes und klar davon zu unterscheiden ist die Qualität der Bindung.

Bowlby bringt das Beispiel eines Lämmchens, das einem garstigen Hund untergeschoben wird. Das Lämmchen rennt dem Hund hinterher, zeigt also Bindungsverhalten! Da Schmerz und dgl. Bindungsverhalten triggert, zeigt das Lämmchen umso verzweifelter Bindungsverhalten umso garstiger der Hund zu ihm ist. Ein Kind bindet sich auch an eine Person, die unsensibel agiert oder es gar misshandelt. Das muss man verstanden haben!

Für die Bindungsqualität dagegen ist die Feinfühligkeit der Bindungspersonen ein wichtiger, viel erforschter Einflussfaktor. Ein durchgehender Vorwurf ist, die Bindungstheorie sei eine „westliche Mittelschicht Philosophie“ und habe daher keine „universelle Gültigkeit“. Tatsächlich machte Mary Ainsworth, Bindungswissenschaftlerin der ersten Stunde, selber Beobachtungen in Uganda. Es gibt zu diesem Thema sehr wohl gute Beiträge.5 Auch hier behauptet Keller sehr undifferenziert viel und belegt wenig. Meines Erachtens müsste sie doch nach ihrer eigenen Logik der Bindungstheorie wenigstens in ihrem angeblichen Forschungsbereich Gültigkeit zugestehen.

Besonders schwer wiegt der Vorwurf, die Bindungstheorie sei nicht wissenschaftlich. Das allermindeste wäre, dass sie ihre Vorwürfe anhand von Aussagen aus den Arbeiten der Vertreter der Bindungstheorie belegt!! Es wäre z.B. zu belegen, dass Bowlby in seinem Werk „attachment“ wissenschaftliche Standards verletzt. Weiter wäre zu belegen, wo z.B. die Studie von Grossmanns nicht wissenschaftlich seriös ist, usw. So ist das einfach nur Hetze. Stattdessen führt Keller Kriterien an, an denen sie die Wissenschaftlichkeit von Bindungstheorie (wie sie sie versteht) misst, die überwiegend gar nicht grundsätzlich erfüllt sein müssen, damit etwas wissenschaftlich ist. Es sind lediglich wünschenswerte Kriterien für gute Wissenschaft.

Sie führt als Disqualifikationsmerkmale für Wissenschaftlichkeit an, dass unter Bindungstheoretikern „keine Einigkeit … herrsche“, erweckt damit den Eindruck, etwas sei nur wissenschaftlich, wenn Einigkeit herrsche. Und sie wirft vor, sie würden sich einer Weiterentwicklung und Erweiterung ihrer Theorie verweigern. Im Widerspruch dazu gesteht sie Weiterentwicklung nicht zu, da wo sie stattfand (weil nicht in ihrem Sinne?), sondern erhebt Vorwürfe wie, das seien „Minitheorien“ die „kein geschlossenes System“ bilden, „unverbunden nebeneinander“ existieren, usw. und fordert „wenige Annahmen“ zu erheben.

Das ist fatal! Wissenschaft lebt davon, dass Theorien aufgestellt werden, eben keine Einigkeit herrscht, Kritiken aufkommen und diese diskutiert werden. Wissenschaft lebt auch davon, dass sich ein Gebiet auffächert, neue Ideen, Aspekte, Forschungen, usw. dazukommen, ja, dass sich verschiedene Richtungen, Schulen herausbilden.

Es macht auch keinen Sinn, früheren Bindungsforschern vorzuwerfen, dass sie später gewonnene Erkenntnisse nicht hatten und nicht berücksichtigt haben.

Das war nun keinesfalls eine erschöpfende Behandlung von Kellers Vorwürfen an die Bindungstheorie und deren Vertreter. Bowlby stellte auch zu seiner Zeit bestehende Theorien der Psychoanalyse in Frage. Besonders beeindruckt hat mich, dass er die Position der anderen genau kannte und immer korrekt und wertschätzend seine Kritik und dazu Belege anführte. Ein wahrer Gentleman! Umso unangenehmer stoßen mir Kellers Ungenauigkeiten und mangelnde Kenntnisse der Bindungstheorie, fehlende Belege und ihr verächtlicher, flapsiger Stil auf.

 

1  Bowlby, John: Attachment.1982 Basic books; Separation, anxiety and anger. 1973 penguin books

2  Keller, Heidi: Das KitaHandbuch: https://www. kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/psycho- logie/die-fundamentalen-irrtuemer-der-bindungs- theorie/

3  „It postulates that the childs tie to his mother is a product of the activity of a number of behavioural systems that have proximity to mother as a predic- tible outcome“

4  Erika Butzmann: https://www.socialnet.de/rezensi- onen/28550.php

5  Grossmann, Karin und Klaus: Universal and culturally specific aspects of sensitive responsi- veness to young children, Attachment & Human Development 2021, vo 223, 231-238

 

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