„Zukunft Familie – Gemeinsamer familienpolitischer Aufbruch in der EU“ – Ausgabe 1/2005

Gute Ideen – es bleibt ein großes "Aber"

Ein Beitrag von Helga Vetter
Am 2. Dezember 2004 hatte die deutsche Bundesfamilienministerin, Renate Schmidt, zur EU-Familienministerkonferenz nach Berlin eingeladen. Im Mittelpunkt sollte die Situation der Familien in Europa und die demografische Entwicklung stehen.
österreich, die Tschechische Republik, Finnland, die Schweiz, Ungarn, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Norwegen, Slowakei, Slowenien, Spanien, und die Niederlande hatten ihre zuständigen VertreterInnen entsandt.

MMMInternational war durch die Generalsekretärin Francoise Blin, die Stellvertretende Generalsekretärin Marie-Liesse Mandula (Frankreich), sowie Anna Kovácová und LibuŽsa Radková (Slowakei) vertreten, MMMEurope durch die Präsidentin Francoise de Bellefroid und Renate Le Taro. Letztere nahm an unserer Jubiläumsfeier in Trier teil. Unser Verband ist Mitglied bei MMM. Als Delegierte der F.E.F.A.F. nahm ich an der Konferenz teil.

Renate Schmidt sieht es als eine der wichtigsten Aufgaben der Regierungen, die Familien zu stützen und zu fördern, denn "Familie stabilisiert die Gesellschaft. Als Leistungsträger und als soziale Mitte gehören Familien in das Zentrum gesellschaftlichen Interesses." "Junge Frauen und Männer wollen heute beides: Erfolg im Beruf und ein Familienleben mit Kindern. Die Bedingungen sind aber in der Regel nicht so, dass es ihnen möglich ist, Beruf und Familie in eine gute Balance zu bringen…". Zur Lösung des Problems, wie jungen Menschen wieder Mut gemacht werden könne, Kinder zu bekommen, sieht die deutsche Familienministerin vier Ansatzpunkte:

I. Kinderbetreuung

– bedarfsgerechter und qualitätsorientierter Ausbau
– frühe Förderung von Kindern, bedarfsgerechtes Angebot für Kinder unter drei Jahren bis 2010
– weiterer Ausbau der Ganztagsschulen
– Qualifizierung der Tagesmütter
– mehr Kinderbetreuungsangebote in den Betrieben.

II. Finanzielle Förderung

Die Opportunitätskosten (1) bei der Geburt des ersten Kindes seien in Deutschland wegen der fehlenden Betreuungsmöglichkeiten und wegen des pauschalen Erziehungsgeldes zu hoch, besonders – aber nicht nur, für gut qualifizierte Eltern. Schmidt will deshalb bis 2010 das Erziehungsgeld in ein auf das erste Lebensjahr des Kindes konzentriertes Elterngeld mit Lohnersatzfunktion umwandeln. Voraussetzung dafür sei aber, dass es bis dahin genügend Kinderbetreuungsplätze, besonders für die unter Dreijährigen gäbe. Die Möglichkeit der Elternzeit, die Erwerbstätigkeit bis zu drei Jahren zu unterbrechen, soll erhalten bleiben.

III. Allianz für die Familie

Das BMFSFJ(2) setzt sich mit Vertretern der Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und UnternehmerInnen für eine familienfreundliche Arbeitswelt ein. Es wurden bereits Vorschläge für eine familienfreundliche Personalpolitik in den Betrieben erarbeitet. Drei Initiativen sind für die beiden nächsten Jahre geplant:

– Ausbau der betrieblichen Kinderbetreuung,
– verbesserte Möglichkeiten des Wiedereinstiegs nach der Elternzeit,
– stärkere Verankerung familienfreundlicher Maßnahmen in Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen.

IV. Familienfreundlichkeit vor Ort

Die von Schmidt geforderte Familienfreundlichkeit vor Ort wird durch die "Lokalen Bündnisse für Familien" gefördert. Ein Servicebüro, finanziert von der EU und vom BMFSFJ, berät kostenlos Kommunen und lokale Initiativen.

Stellungnahmen

Maud de Boer-Buquicchio, Vize-Generalsekretärin des Europarates,
legte dar, dass Familie der erste Kontakt des Menschen zur Welt darstelle und sein späteres Denken und Handeln beeinflusse. Die Politik solle den Familien weiterhin die Rolle ermöglichen, die ihnen zustehe. Der Schutz durch den Staat dürfe nicht auf die traditionelle Familie beschränkt werden. Die EU wolle neue Projekte zur Unterstützung der Familien finanziell fördern.

Jerôme Vignon, Mitglied der EU-Kommission, verlas ein Grußwort des EU-Kommissars für Beschäftigung und Soziale Angelegenheiten Vladimir Spîdla.
Auch er sprach von den Herausforderungen durch die demografischen Veränderungen. Es gelte mehr und bessere Arbeitsplätze zu schaffen und die volle Gleichstellung von Mann und Frau herbeizuführen. Jeder Mensch habe das Recht, sich als Arbeitender und in der Familie voll zu verwirklichen. Ein Leitgedanke der Politik müsse ein neuer Generationenvertrag sein.

Dr. Hubert Krieger, Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, Dublin,
sprach zum Thema "ohne Kinder keine Zukunft – demografische Entwicklung in Europa". Nach seiner Aussage müsse das Kapital, das Frauen darstellten, besser genutzt werden. Ziel müsse sein, die Fertilitätsrate und die Beschäftigungsrate zu erhöhen. Dazu sei eine gute Beschäftigungspolitik wichtig (flexible Arbeitszeiten, finanzielle Unterstützung der Familien und Elternzeit). OECD Länder mit hoher Beschäftigungsrate hätten eine hohe Fertilitätsrate, denn bezahlte Arbeit sei für viele Frauen die Vorbedingung für die Realisierung des Kinderwunsches.

"Kinderbetreuung und Bedürfnisse der Kinder in unseren Gesellschaften" war das Thema von Dr. Jeanne Fagnani, Matisse Universität Paris.
Die dramatische Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen erfordere den zunehmenden Ausbau von Kinderbetreuungsmöglichkeiten. In den Mitgliedsstaaten der EU (alt) seien flexible und familienfreundliche Muster vorherrschend, es gäbe aber große Schwierigkeiten, wenn es darum gehe, bezahlte Arbeit und unbezahlte Familienarbeit zu kombinieren. Mütter würden am Arbeitsmarkt bestraft, vor allem dadurch, dass sie sich im Beruf nicht so hoch qualifizieren könnten. Ein Paket von familien- und kinderfreundlichen Maßnahmen, entstehend durch die Zusammenarbeit zwischen Verbänden und Politikern, sei notwendig.

Willem Adema, OECD, Abteilung für Sozialpolitik,
referierte über die Work-Life-Balance. Er zitierte Zahlen aus dem OECD-Bericht über die Kinderbetreuungssysteme, die unterschiedlichen Betreuungsangebote und die Variationen in der Gewährung der Elternzeit. Selbst in Schweden steige die Geburtenrate nicht, schwanke immer um 1,8 und 1,9 Kinder. Um die Rentensysteme zu sichern, brauchten unsere Staaten jede mögliche Arbeitskraft und eine Hilfe gegen Armut sei, dass die Mutter arbeite. Direktes finanzielles Einkommen würde den Eltern zwar das Kinderbekommen erleichtern, sei aber ein Anreiz zu Hause zu bleiben.
Politiker und Arbeitgeber müssten familienfreundliche Arbeitsbedingungen herbeiführen, man müsse die Unterstützerrolle der Gewerkschaften entwickeln. Es stelle sich aber die Frage, ob sich viel ändere wenn man diese Aufgabe den Tarifpartnern überlässt. Deshalb bitte er die Verbände zu Handelnden zu werden.

Prof. Dr. Bert Rürup, TU Darmstadt, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung,
trug seine Gedanken zu einer nachhaltigen Familienpolitik vor. Die Schrumpfung der Bevölkerung wirke sich auf die Wirtschaft wachstumsdämpfend aus. Deswegen sei Familienpolitik auch Wachstumspolitik. Kurz- und mittelfristig gelte es, die Erwerbsquote der Frauen zu erhöhen, ebenso die Geburtenrate, damit sie bestandssichernd werde. Bei diesen Bemühungen müsse es aber keinen Interessenkonflikt zwischen diesen beiden Zielen geben. Da heute faktisch kein Kind mehr gegen den Willen der Eltern geboren würde, würden sich die Eltern für ein Kind entscheiden, wenn sie eine Bereicherung in vielen Beziehungen erwarten könnten. Dafür schaffe die Politik die Rahmenbedingungen. Es gelte, das Individuum zu berücksichtigen und nicht nur die Institution "Ehe" im Blick zu haben.

In der anschließenden Podiumsdiskussion trugen ihre Standpunkte und Erfahrungen vor: Catherine Ferrant, Personalvorstand von TOTAL Frankreich, Kay Carberry, Stellvertretende Generalsekretärin des TUC(3) Großbritannien, Jerôme Vignon Belgien, Bert Rürup Deutschland, ein Vertreter der Norwegischen Familienministerin und Marieluise Beck, Parlamentarische Staatssekretärin des BMFSFJ.

Catherine Ferrant sprach gezielt über die Personalpolitik der Firma TOTAL. Die Familien sollten in den Betrieb "aufgenommen" werden. Frauen und Nicht-Franzosen sollten in die oberen Führungsetagen einziehen. Eine Firma wie TOTAL brauche alle Talente, denn die Diversität fördere die Kreativität. Bei TOTAL könnten Frauen jederzeit "Mutter" und "Karrierefrau" sein. Schon während der Schwangerschaft würde mit den Frauen besprochen, wie sich diese die Gestaltung ihrer Arbeitszeit vorstellen würden. Mutterschaft solle sich auch im Gehalt widerspiegeln. Um den Müttern das Alltagsleben zu erleichtern, fände keine Sitzung vor 9 Uhr und nach 18 Uhr statt. Es gäbe eine große Flexibilität was die Dauer der Arbeitszeit angehe. TOTAL biete verschiedene Dienste an, z.B. die Organisation eines Babysitters per Internet.

Kay Carberry schilderte, dass die britische Regierung wg. der bevölkerungspolitischen Maßnahmen die Verbindung zur Wirtschaft suche. Sie will die Entwicklung der Kinder durch frühe Förderung ausbauen. Eine Produktionssteigerung durch mehr Frauenerwerbstätigkeit sei angestrebt, denn mehr Einkommen helfe gegen Kinderarmut. Durch Steuererleichterung, auch für mittlere Einkommen, sollen die Eltern unterstützt werden. Das Netz der Kinderbetreuung sei gut, solle aber noch weiter ausgebaut werden. Bis 2010 sollten in allen Gemeinden Kinderzentren mit Diensten für die Schulen, Erziehung und Betreuung eingerichtet werden. In die Kampagne für die Work-Life-Balance waren die Gewerkschaften eingebunden, diese mache auch für die Arbeitgeber Sinn. Es gäbe eine öffentliche Diskussion über die Rolle der Väter (lange Arbeitszeiten).

Der Vertreter der norwegischen Familienministerin sieht sein Land in der Rolle des Pioniers der Familienpolitik. Die Fertilitätsrate liege bei 1,9 Kindern. 69 % der Kinder unter dem fünften Lebensjahr hätten einen Betreuungsplatz. Es gibt eine Elternzeit von 42 Wochen bei vollem Lohnausgleich und 52 Wochen mit 80 % Lohnausgleich, vier Wochen davon stünden dem Vater zu. Wer wolle, könne zusätzlich ein Jahr Elternzeit ohne Bezahlung in Anspruch nehmen, mit dem Anspruch auf Rückkehr an den Arbeitsplatz. Wer kleine Kinder habe, hätte einen Anspruch auf Teilzeitarbeit.

Marieluise Beck erläuterte, dass es seit fast zehn Jahren eine flächendeckende Versorgung an Kindergartenplätzen für Kinder von drei bis sechs Jahren gäbe.
Die Trennung der Kinder unter drei Jahren von der Mutter sei nach den bisherigen Vorstellungen nicht möglich gewesen, dies passe aber mit den Anforderung der modernen Wirtschaft nicht zusammen. Die in der Familie vermittelte Bildung und Erziehung der Kinder sei häufig nicht mehr ausreichend.

Jerôme Vignon erklärte, dass Familienpolitik nicht zu den Zuständigkeiten der EU gehöre und für die Kommission ein schwieriges Thema sei.

Meine Meinung:
Die Konferenz war offensichtlich bei den NGO“s (Nicht-Regierungsorganisationen) auf großes Interesse gestoßen, besonders bei den neuen EU-Mitgliedern. Gegen die Absicht Renate Schmidts, dass es höchste Zeit wird, auf europäischer Ebene über Familien zu sprechen, kann frau keine Einwände haben, aber es verwunderte mich schon, dass ich auf der Liste nur wenige Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Ministerrang fand.

Schade, dass die neuen EU-Länder weder bei den Statements noch auf dem Podium vertreten waren. Sie hätten sicher interessante Aspekte zur Diskussion beitragen können.

Mein Eindruck von der Konferenz: Familienarbeit am eigenen Kind zu leisten ist politisch nicht gewollt. Die Frauen und mit ihnen die Familien, ob in der Form Vater – Mutter -Kinder oder allein erziehend lebend, haben sich den gegenwärtigen wirtschaftlichen Ideologien unterzuordnen. D.h. überspitzt formuliert: Die Wirtschaft erwartet, dass die Frauen die Folgen der demografischen Entwicklung tragen. Sie sollen mehr Kinder gebären und wegen des drohenden Fachkräftemangels zusätzlich erwerbstätig sein.

"Arbeit" ist nur dort, wo sie unmittelbar in Euro und Cent ausgezahlt wird, deswegen findet "Familienarbeit" im Bewusstsein vieler PolitikerInnen gar nicht statt und ist höchstens mal der Erwähnung in einem Nebensatz wert. Insgesamt war die Sprache sehr unsensibel. Familienarbeit wurde als "zu Hause bleiben", "sich um die Kinder kümmern" und "geht nicht arbeiten" bezeichnet. Untersuchungen über den wirtschaftlichen Wert der vor allem von Frauen geleisteten Arbeit bei der Erziehung und Betreuung ihrer Kinder und der Pflege von alten oder hilfsbedürftigen Angehörigen, die ja vorliegen, werden offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen.

Gelegentlich hatte ich den Eindruck, bei einem einseitigen ideologischen Schaulaufen anwesend zu sein, z.B. als die deutsche Familienministerin mit Vehemenz ausrief, dass eine Bezahlung der Familienarbeit auf Dauer nie möglich wäre. Wer will das eigentlich?

Wenn Renate Schmidt sagt, dass das unmittelbar erfolgreichste Mittel gegen Familienarmut die Möglichkeit zur Erwerbstätigkeit sei, hat sie Recht. Unmittelbar ist etwas mehr Geld in der Haushaltskasse, aber alle anderen Faktoren sind nicht berücksichtigt, wie z.B. die Mehrfachbelastung der Frauen, auch wenn die Kinderbetreuung optimal wäre, die Mehrausgaben für eine geänderte Haushaltsführung usw. …

Ein weiteres Rätsel, das sich mir bei der Tagung nicht enthüllte: An welche Erwerbsarbeitsplätze (nicht die Minijobs) möchte Bernd Rürup all die Frauen stellen, die jetzt nicht "arbeiten"? Bei der hohen Zahl an Erwerbslosen in Deutschland eine interessante Frage.

Die dhg, der Verband der Familienfrauen und -männer e.V. hat schon lange einen Lösungsvorschlag erarbeitet, der den Bedürfnissen von Müttern und Vätern gerecht wird.(4,5)

Erst wenn die Familienarbeit für einige Jahre bezahlt wird, können Eltern sich frei entscheiden: für einen Ganz- oder Teil-Erwerbsarbeitsplatz innerhalb bzw. außerhalb der Familie oder ob sie ihre Kinder alleine erziehen oder einen Teil dieser Arbeit gegen Bezahlung delegieren wollen. Wenn die politischen und finanziellen Rahmenbedingungen stimmen, ist für die Eltern, vor allem für die Mütter, die Möglichkeit einer echten Wahl gegeben.
Ich stimme unserer Familienministerin zu, wenn sie sagt: "Kinder brauchen Zeit mit ihren Eltern, Eltern wollen Zeit mit ihren Kindern verbringen. Zeit ist das Zauberwort für ein geglücktes Familienleben"(6), aber es geht hier nicht nur um Zeit und Zeitvertreib, sondern um die anfallende Familienarbeit. Renate Schmidt ist mit ihren Kolleginnen und Kollegen auf EU-Ebene gefordert, wenn es gilt, günstige Voraussetzungen zu schaffen.

1 Kosten, die bei Erwerbsunterbrechung, Einkommensverlust und Einbußen in der Alterssicherung entstehen
2 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Deutschland
3 Trade Union Congress, entspricht in etwa dem Gewerkschaftsbund in Deutschland
4 s. Fh 1/2003 – "Gehalt für Familienarbeit – Lösung oder volkswirtschaftlicher Unsinn?
5 Jünemann/Ludwig, Hrsg.: Vollbeschäftigung ist möglich, 2002
6 Renate Schmidt, Rede bei der Konferenz am 2. Dez. 2004

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