Ein schriftliches Interview mit Dr. Hans-Joachim Maaz von Sarah Meyer
Im Rahmen des „Bedürfnisorientiert Aufwachsen“ Online Kongresses (https://beduerfnisorientiert-aufwachsen.de) interviewten die Veranstalterinnen den Psychoanalytiker Prof. Dr. Hans-Joachim Maaz, Autor des Buches „Die narzisstische Gesellschaft – ein Psychogramm“, erschienen im Verlag C.H. Beck, ISBN 978-3406640414.
Auszug aus dem Buch: Die narzisstische Gesellschaft / Ein Psychogramm. „Unsere Gesellschaft ist in die Narzissmus-Falle geraten. Solange wir keine Mittel und Wege finden, den Narzissmus und die ihm zugrunde liegende Bedürftigkeit zu zähmen, so lange gleichen alle unsere Versuche, die Krise zu überwinden und die gesellschaftlichen Verhältnisse doch noch zum Besseren zu verändern, einem Stühlerücken auf der Titanic. Gier – den Hals nicht voll kriegen zu können, so lautet die mit Abstand häufigste Antwort auf die Frage nach der tieferen Ursache der Krise unseres Finanz- und Gesellschaftssystems.
Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz gibt sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. Gier, sei es nach Geld oder anderen Lebensvorteilen, so kann er zeigen, ist Ausdruck einer narzisstischen Störung. Der narzisstische Mensch ist im Kern ein um Anerkennung ringender, stark verunsicherter Mensch. So tut er alles, um die Bestätigung, die er zum Leben braucht, zu erhalten. Diese narzisstische Kompensation bedarf ständig erweiterter Ablenkung durch Konsum, Besitz, Animation und Aktion. Gier ist keine spezifische Charaktereigenschaft etwa von Bankern oder lediglich Folge falscher Anreize: Für Maaz ist sie ein zentrales Symptom der narzisstischen Bedürftigkeit der meisten Bürger der westlichen Konsumgesellschaften. Besonders ausgeprägt ist sie allerdings bei den Trägern gesellschaftlicher Macht anzutreffen: bei Politikern, Managern und Stars.“
Herr Maaz, im Großen und Ganzen sagen Sie, unsere Gesellschaft leide an einer narzisstischen Störung, ausgelöst durch fehlende Urbindung und Urvertrauen. Woraus vielerlei Probleme entstehen, die nicht so leicht in Luft aufzulösen sind. Eine Massentherapie sei vonnöten, um eine ganze Gesellschaft davon zu rehabilitieren. Habe ich Sie da richtig verstanden?
Hans-Joachim Maaz: Ich nenne unsere narzisstische Gesellschaft eine gesellschaftliche „Normopathie“. Mit diesem Begriff wird die Fehlentwicklung, das Gestörte (das „Pathische“) als normal erlebt, weil die Mehrheit der jeweiligen Bevölkerung sich so verhält bzw. Werte und Normen vertritt, die entfremdet und pathogen sind. Um eine solche massenpsychologische Fehlentwicklung zu stoppen, wäre natürlich eine Massen-Therapie erforderlich. Aber diese ist leider unrealistisch. Wer könnte das wie leisten? Und wie wäre das durchzusetzen, wenn die Mehrheit davon überzeugt ist, auf dem richtigen Weg zu sein? So sind Kriegsbegeisterung, Völkermord, Rassenwahn, irrationale Ideologien, Umweltzerstörung, Ausbeutung, soziale Ungerechtigkeit immer von Mitläufern und Mittätern getragen worden. Eine Chance für eine Massen-Therapie kann sich in der Regel erst durch eine Katastrophe, durch den Zusammenbruch eines gesellschaftlichen Systems eröffnen. Aber leider werden dann zumeist nur äußere Veränderungen vollzogen, ohne die innerseelischen Grundlagen der Mitläufer-Entfremdung zu erkennen und aufzulösen.
So ist uns Deutschen z.B. nach 1945 „Demokratie“ verordnet worden, die z.T. auch noch mit den Nazi-Eliten aufgebaut werden konnte, aber auf eine innerseelische Demokratisierung ist bei der „reeducation“ der Deutschen nicht geachtet worden. Es müssten die seelischen Verletzungen und Kränkungen in der Persönlichkeitsentwicklung, die Lieblosigkeit, mangelhaftes Verständnis, fehlende Bestätigung und Anerkennung als Ursachen gestörter Ur-Bindung mit daraus folgenden Ängsten, der aufgestauten Wut, mit seelischem Schmerz und Trauer erkannt und verarbeitet werden, um wirklich ein „Demokrat“ zu werden, der seine „seelischen Minderheiten“ kontrolliert und reguliert und dafür keine Feindbilder mehr braucht, um die eigenen Fehler und Schwächen zu projizieren.
Um das destruktive Ende einer normopathischen Gesellschaft zu verhindern, müsste über das Zusammenspiel seelischer Zustände und sozialen Verhaltens ausreichend und überzeugend informiert und aufgeklärt werden. Es müssten tatsächlich viele therapeutische Angebote für den Einzelnen, aber auch für Gruppen geschaffen werden. Am wichtigsten aber wäre die Prävention, indem für optimale Ur-Bindung (Ur-Vertrauen) gesorgt wird. Und das heißt: beste Frühbetreuung der Kinder durch ihre Eltern, die durch Elternschulen und finanzielle Unterstützung einer entsprechenden Familienpolitik auf diese für die Gesellschaft so wichtige Beziehungsfunktion entsprechend vorbereitet werden. Und wenn notfalls Fremdbetreuung notwendig wird, müsste diese beziehungsdynamisch optimal möglich sein (z.B. Betreuungsschlüssel 1:4, Kontinuität durch eine Bezugsperson, beziehungsdynamische Bildung („Herzensbildung“, Empathiefähigkeit) hat größere Bedeutung als pädagogische Bildung).
Der Schlüssel scheint mir hier die Urbindung zu sein. Würden Sie unseren Lesern erläutern, warum es so wichtig ist, dass der Mensch eine gute Urbindung erlangt? Und wenn er sie erhalten hat, was das für Vorteile mit sich bringt?
Hans-Joachim Maaz: Eine „Ur-Bindung“ entsteht, wenn das Kind in der Frühbetreuung einfühlend verstanden, bestätigt und optimal in seinen Bedürfnissen befriedigt wird. Die leibliche Mutter hat dabei die größte Bedeutung, die nicht ohne Probleme für das Kind auf andere Personen (Vater, Oma, Krippenerzieher, Tagesmutter) delegiert werden kann, weil die Ur-Bindung schon im Mutterleib, also in der Schwangerschaft und dann durch die Geburt und Stillzeit bereits prägend hergestellt wird oder auch nachhaltig gestört werden kann. Deshalb sind der psychische Zustand der Schwangeren, die Qualität der Entbindung (möglichst natürliche Geburt) und eine selbstverständlich liebevolle Zuwendung durch das Stillen von größter Bedeutung.
Ur-Bindung prägt die Persönlichkeit. Die Säuglings- und die Hirnforschung haben belegen können, dass die frühe Beziehungsqualität zwischen Mutter und Kind, Vater und Kind, Mutter-Vater und Kind für den Charakter und das Verhalten des späteren Erwachsenen von entscheidender Bedeutung ist. Die frühe Beziehungsqualität entscheidet über das mehr oder weniger permanente Erleben von
- Bedrohung oder Sicherheit
- Besetzung oder Freiheit
- Bedürftigkeit oder Befriedigung
- Abhängigkeit oder Eigenständigkeit
- Hemmung oder Kreativität
- Faulheit und Bequemlichkeit oder Leistungsbereitschaft
- permanente Anspannung oder Entspannung bei akzeptierter Begrenzung.
Was würden Sie allen Familien da draußen raten, in Bezug auf ihre Kinder?
Hans-Joachim Maaz: Alle Eltern sollten sich entwicklungspsychologisches Wissen aneignen. Aber nicht nur Ratgeber lesen, sondern die eigene Beziehungsfähigkeit (die mütterlichen und väterlichen Fähigkeiten) durch Selbsterfahrung kennenlernen und so weit es geht optimieren (durch Kurse, Elternschulen, Selbsthilfegruppen, Therapie und Beratung). Grenzen an elterlicher Beziehungsfähigkeit sind normal (s. „Lilith-Komplex“ von H.-J. Maaz). Es geht darum, wie Begrenzung vermittelt wird, z.B. als ein Problem der Eltern, oder ob Kinder für ihre Bedürftigkeit getadelt und abgelehnt werden. In ihren Bedürfnissen gut gestillte Kinder werden keine überzogenen Erwartungen mit heftigen Affekten entwickeln. Nur „ungestillte“ Kinder entwickeln lästigen Protest und süchtiges Fehlverhalten. Enttäuschte Gefühlsäußerungen bei unvermeidbarer Begrenzung sollten selbstverständlich akzeptiert und bestätigt werden, dann bleibt alles gut verständlich und verträglich. Ein angemessener und akzeptierter Ausdruck von Enttäuschung, Unmut, Ärger, schmerzlichem Verzicht kommt bereits nach kurzer Zeit wieder zur Ruhe. Eltern müssen auch über eine mögliche falsche Überzeugung von „Liebe“ für ihr Kind reflektieren. Zwischen dem, was Eltern für richtig und notwendig halten, was sie glauben, „aus Liebe“ zu tun, und dem, was beim Kind als Unverständnis, Abwertung und Kränkung ankommt, ist oft eine große Diskrepanz. Also brauchen Eltern vor allem Selbsterfahrung über ihre Beziehungsfähigkeit und Schulung ihres Beziehungsverhaltens.
Bedarf es mehr emanzipierter Mütter, die bewusst zu Hause bei ihren Kindern bleiben, um sie zu betreuen und um sie nicht in dieses System zu integrieren?
Hans-Joachim Maaz: Die leibliche Mutter ist und bleibt die wichtigste Bezugs(Beziehungs-)person für das Kind. Sie sollte die ersten 2-3 Jahre die Kinderbetreuung übernehmen wollen und können. Dafür muss sie psychologisch vorbereitet sein, finanziell ausgestattet werden und „Mütterlichkeit“ müsste in der Gesellschaft als ein höchster Wert akzeptiert und gefördert werden. Wenn gute „Mütterlichkeit“ wegen Karrieredenken, ökonomischen Zwängen oder feministischer Abwertung aufgegeben und verraten wird, muss immer mit individuellen Problemen und Fehlentwicklungen des zu betreuenden Kindes und bei massenpsychologischem „Muttermangel“ mit gesellschaftlicher Fehlentwicklung gerechnet werden. Frühe Bedrohung wird später zumeist in Gewalt ausgelebt, seelische Kränkung verursacht Hass, Liebesmangel hinterlässt eine Bedürftigkeit, die zu jeder Form süchtiger Kompensation verführt und frühe Besetzung, Abhängigkeit und Hemmung produzieren die Mitläufer und Mittäter einer Normopathie.
Wie könnte ein neu gestaltetes System im bedürfnisorientierten Sinne aussehen?
Hans-Joachim Maaz: Eine verbesserte gesellschaftliche Situation ist nur denkbar, wenn eine Empathie für kindliche Bedürfnisse besteht mit optimaler Befriedigungsfähigkeit und -bereitschaft. Unvermeidbare Begrenzung darf nicht autoritär oder moralisierend vermittelt werden, auch nicht falsch liberal ideologisiert werden („antiautoritäres“ laissez faire), sondern muss emotional verarbeitet werden. Die besten Bildungsvoraussetzungen entstehen bei sicherer Bindung, d.h. bei gutem Vertrauen, entwickeltem Selbstwert und sicherer Identität. „Beziehungskultur“ wäre die notwendige Basis für optimierte Bildung, die dann aus einem Selbstbedürfnis entsteht und Angebote braucht, anstatt normierter Bildungszwänge. Gute, nachhaltige Bildung ist ein Beziehungsgeschehen und wird emotional getragen, alles andere ist kurzfristiges Lernen mit schnellster Entsorgung des nur Angelernten. Wollen wir Bildung reifen lassen und damit die individuelle Persönlichkeit entwickeln helfen oder brauchen wir durch erzwungenes Lernen Entfremdung und Abhängigkeit im Dienste von Macht, Profit, Ideologie und Religion?
Wir möchten mit unserem Kongress dazu beitragen, dass mehr Menschen verstehen, dass dieser Lebensstil verändert werden muss. Für uns, unsere Kinder und für nächste Generationen. Beziehung statt Erziehung sozusagen. Wäre das in Ihren Augen ein Ansatz? Was sind Ihre Gedanken dazu?
Hans-Joachim Maaz: Ich überschaue in der jüngsten deutschen Geschichte drei Normopathien:
– die nationalsozialistische
– die real sozialistische
– die narzisstische,
jeweils getragen von massenhafter Entfremdung mit kollektiver Mitläufer-Pathologie. Unsere gegenwärtige narzisstische Normopathie befindet sich längst in einer bedrohlichen Krise, die durch wachsende soziale Ungerechtigkeit, durch kriegerische Kämpfe um Ressourcen und Absatzmärkte, durch unfairen Handel, durch Klimawandel, Umweltzerstörung, Vergiftung von Luft, Wasser, Boden und damit belastete Nahrungsmittel, durch Artensterben, durch Massen-Migration erkennbar wird. Wir sind Täter und Opfer einer pathologischen Lebensform, die nur materielles Wachstum und damit Profit und Gier befördert und das soziale Miteinander vernachlässigt. Die süchtige Wachstumsgesellschaft kann mit ihren destruktiven Folgen nur durch eine „Beziehungskultur“ reguliert und begrenzt werden. Die Basis dafür wäre Beziehung statt Erziehung mit einer Ethik unvermeidbarer Begrenzung (des materiellen Wachstums, der individuellen und gesellschaftlichen Möglichkeiten und des Lebens). Erziehung schafft Forderungen, Normen und Ziele, die kein Ende finden und Entfremdung erzwingen. Beziehung ermöglicht eine sich unendlich wiederholende Befriedigung immer wiederkehrender natürlicher Bedürfnisse ohne eine überzogene Steigerung. Erziehung führt in die Sucht, Beziehung gestaltet den natürlichen Rhythmus von Anspannung und Entspannung mit kultureller Vielfalt.
Wir bedanken uns für die Impulse und Denkanstöße, die Sie uns mit auf den Weg geben. Ich hoffe, wir können dazu beitragen, dass dieser Thematik mehr Gehör geschenkt wird. Dass viele auch dieses BEWUSSTSEIN erlangen, indem sie beginnen sich zu informieren.