Frühkindliche Fremdbetreuung = „frühkindliche Bildung“? (Fh 2017/4)

Beitragsbild: Kinder in Kita

Jedem aufmerksamem Beobachter wird nicht entgangen sein, dass in unseren wichtigsten Medien die Fremdbetreuung von Kleinkindern in einer Krippe gemäß regierungsamtlichen Vorgaben als „frühkindliche Bildung“ bezeichnet wird, die für die Kinder vorteilhaft sei. Oft wird dabei auf irgendwelche Studien verwiesen, die zu solchen Schlüssen geführt hätten. Wir drucken hier beispielhaft den ersten Teil eines solchen Beitrags ab, der sich ebenfalls auf „Studien“ stützt, und dazu einen kritischen Kommentar von Dr. Johannes Resch.

Zunächst der Beitrag aus „Heidelberg 24“, einem Online-Forum der Region Rhein-Neckar (der vollständige Text ist unter https://www.heidelberg24.de/karriere/ nach-elternzeit-muetter-wieder-arbeiten-kinder-zr-8759142.htm einzusehen):

Nach der Elternzeit – Was mit Kindern passiert, wenn Mütter früh wieder arbeiten gehen.

Nach ein paar Monaten Elternzeit wollen viele Mütter schnell wieder zurück in den Job – und plagen sich mit Gewissensbissen. Dabei wäre das gar nicht nötig.

Die Elternzeit hängt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Mütter. Viele haben das Gefühl, es nie richtig machen zu können – egal, wie lange sie bei ihrem Kind zu Hause bleiben: Kümmern sie sich mehrere Jahre ausschließlich um die Familie, befürchten sie, aus dem Job „heraus“ zu sein. Gehen sie früh wieder arbeiten, plagen sie Gewissensbisse, weil sie denken, ihr Kind zu vernachlässigen.

Studien zeigen, dass Kinder und Mütter von schneller Rückkehr in den Job profitieren. Dabei müssen sich Eltern gar keine Sorgen machen, wenn sie ihr Kind früh in die Kita oder zur Tagesmutter bringen. Verschiedene Studien zeigen inzwischen, dass Kleinkinder von der Fremdbetreuung in den meisten Fällen profitieren. Und auch Müttern, die nach der Babypause wieder voll motiviert im Job durchstarten wollen, bringt eine kurze Elternzeit viele Vorteile:

1. Kita-Besuch wirkt sich positiv auf Psyche des Kindes aus. Die meisten Mütter in Deutschland, die wieder früh in den Job zurückkehren, bringen ihr Kind mit etwa einem Jahr in die Kita – teilweise auch früher. Schließlich nehmen die meisten Krippen Kinder bereits ab zehn Monaten, teilweise sogar schon ab wenigen Wochen auf. Doch sie müssen sich keine Sorgen machen, dass es für ihr Kind zu früh sein könnte: Laut Experten wirkt sich eine gute Betreuung außerhalb der Familie positiv auf seine Entwicklung aus. Veit Roessner, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Dresden, fand 2016 heraus, dass Kinder, die in den ersten zwei Lebensjahren fremdbetreut wurden, später seltener an psychischen Störungen leiden. […]

Kommentar zu obigem Beitrag von Johannes Resch

Kurz zu mir: Ich habe selbst drei Kinder, bin Arzt für Neurologie und Psychiatrie sowie für Arbeitsmedizin mit Zusatzbezeichnung Sozialmedizin. Meine Leidenschaft für Familien- und Sozialpolitik entdeckte ich während einer Assistententätigkeit an der Uni Heidelberg, wo ich (zunächst widerwillig) ein Seminar „Sozialpolitik“ für Medizinstudenten halten musste. An diesem Institut wurden auch Studien zu den Ursachen von Krankheiten und psychischen Störungen angefertigt, so dass ich einige Erfahrungen mit der erforderlichen Methodik sammeln konnte.

Der obige Online-Beitrag versucht ganz offensichtlich, eventuelle Bedenken von Eltern zu zerstreuen, wenn sie ihre Kleinkinder in eine Krippe geben. Es wird behauptet, frühe Fremdbetreuung komme dem Kind zugute. Wie in vielen anderen Beiträgen auch, wird versucht durch Hinweis auf „Studien“ dieser Auffassung Seriosität zu verleihen. Dieser Beitrag beruft sich u.a. auf eine Studie aus der Uni-Klinik Dresden, in der die Behauptung aufgestellt wird, frühe Krippenbetreuung wirke späteren psychischen Störungen entgegen.

Studien, die sich mit Zusammenhängen befassen, also den Ursachen von Krankheiten, psychischen Störungen usw. nachgehen, sind wichtig und können wertvolle Hinweise ergeben. Sie können aber auch bei Nichtbeachtung wichtiger Regeln zu völlig falschen Schlüssen führen.

Leider ist es heute so, dass unabhängige Forschungen an Unis, die früher die Regel waren, immer mehr zur Ausnahme werden, weil der normale Haushalt meist nur zur Routine reicht (Patientenversorgung, Lehre, Bürokratie, Sachmittel usw.). Wer forschen will, braucht meist Geldgeber aus Wirtschaft oder von staatlichen Stellen. Solche Gutachtenaufträge sind dann meist mit bestimmten Erwartungen verbunden. Viele Wissenschaftler neigen dann dazu, diese Erwartungen möglichst zu erfüllen, schon um Folgeaufträge an Land zu ziehen. Es sollte also immer gefragt werden, wer das Geld für irgendeine Studie gezahlt hat. Allerdings ist zur Ehrenrettung vieler Wissenschaftler/innen auch festzuhalten, dass sie auch dann zu ihren Erkenntnissen stehen, wenn sie nicht den Erwartungen der Auftraggeber entsprechen. Solche Ergebnisse verschwinden dann aber meist in den Schubladen der Auftraggeber.

Das Ergebnis der obigen Studie aus Dresden, in der behauptet wird, ein früher Beginn von Krippenbetreuung senke die Häufigkeit von auffälligem Sozialverhalten im Alter bei Einschulung, passt exakt zur Krippenpolitik der bisherigen Regierung. Den Geldgeber konnte ich bisher nicht sicher ermitteln. Vermutlich war es das Bundesfamilienministerium. Eigentlich sollte der Geldgeber in einer Studie erkenntlich sein. Wenn er nicht erwähnt wird, ist das schon ein Indiz, das Misstrauen rechtfertigt. Diese „Studie“ ging mit großem Presseaufwand 2015 durch alle Medien, weswegen ich mich damals etwas näher damit befasst habe.

Die Studie enthält Ergebnisse, die weit überinterpretiert werden und damit als unzulässig bewertet werden müssen. Dazu nur einige Angaben:

1. Die untersuchten Kinder eines Einschulungsjahrgangs in Dresden waren zu 94 % in einer Krippe. Nur 6 % gingen erst ab drei in einen Kindergarten. Das ist im Gebiet der früheren DDR nicht ungewöhnlich. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass es sich bei diesen wenigen Nicht-Krippen-Kindern von vornherein um Problemkinder handelte, die deshalb nicht in eine Krippe gegeben wurden, sondern erst ab drei in einen Kindergarten gingen. Wenn diese Kinder dann auch bei Einschulung noch auffälliger waren als andere Kinder, braucht das also keinesfalls Folge der fehlenden Krippenbetreuung sein. Es kann ebenso gut umgekehrt sein, dass eine von vornherein bestehende Auffälligkeit Grund für den Nichtbesuch einer Krippe oder für einen späteren Eintritt war. Wenn beides auseinandergehalten werden soll, hätten die Kinder schon in früherem Alter (also vor Krippeneintritt) untersucht werden müssen. Das war aber nicht Fall. Somit ist die Behauptung, früher Krippeneintritt führe zu weniger psychischen Auffälligkeiten bei Schuleintritt eine typische Überinterpretation, die in keiner Weise gerechtfertigt ist. Das ist ein typischer Fehler, der vor allem von Anfängern (oder von manipulierenden Wissenschaftlern) immer wieder gemacht wird, nämlich, dass aufgrund einer zahlenmäßigen Beziehung auf einen ursächlichen Zusammenhang geschlossen wird. Jedem ist das Beispiel bekannt, dass der Rückgang der Geburten gleichzeitig mit dem Rückgang der Störche erfolgt ist. Aber das ist eben noch kein Beweis dafür, dass Störche die Kinder bringen. Das Beispiel passt nicht so ganz, weil ja die Beziehung zwischen Krippenbesuch und psychischer Auffälligkeit zutreffend sein mag. Offen ist aber, was Ursache und was Wirkung ist.

2. Die Angaben über psychische Auffälligkeiten wurden ausschließlich von den Eltern erfragt (per Fragebogen bei der Einschulungsuntersuchung). Es kann durchaus sein, dass Krippeneltern (z.B. aufgrund eines unterschwellig schlechten Gewissens) psychische Auffälligkeiten ihrer Kinder verdrängen. Auch hier wären Untersuchungen durch geeignete Psychologen, die gleiche Maßstäbe anlegen, aussagefähiger gewesen. Aber das hätte freilich höhere Kosten verursacht.

3. Die bisher größte Untersuchung zu den Folgen von Krippenbetreuung (NICHD-Studie in den USA) erbrachte, dass psychische Auffälligkeiten mit der Dauer von Krippenbetreuung vor allem später (in der Pubertät und danach) zunehmen. Das konnte aber bei dieser Studie gar nicht untersucht werden, weil sie sich nur auf das Einschulungsalter bezog.

Generell sollte man sehr vorsichtig sein und nicht leichtgläubig jeder „Studie“ glauben. Ob ein Ergebnis glaubwürdig ist oder nicht, ist nur bei genauer Prüfung der angewandten Methodik und Kenntnis der dabei möglichen Fehlerquellen beurteilbar. Wer dazu nicht in der Lage ist, z.B. weil die Quellen nicht zugänglich sind, ist oft besser beraten, dem eigenen „Bauchgefühl“ zu folgen, als „Studien“ blind zu glauben. Wissenschaft ist eine wunderbare Sache, aber eben nur, wenn sie wirklich als Suche nach der Wahrheit begriffen und danach gehandelt wird. Leider wird aber der immer noch gute Ruf von Wissenschaft häufig dazu missbraucht, der Wirklichkeit widersprechenden Ideologien einen seriösen Anstrich zu geben.