Sonntag Aktuell Ludwigshafen, 10. November 2002
"Zu Ganztagsschulen noch viele Fragen offen"
Wohl und Wehe der Ganztagsschule beherrschen die bildungspolitische Debatte in Rheinland-Pfalz ebenso wie der Zustand unseres Bildungssystems im Lichte der Erkenntnisse aus der so genannten Pisa-Studie. Themen, die auch beim Landeselterntag gestern in Alzey behandelt wurden.
Wohl und Wehe der Ganztagsschule beherrschen die bildungspolitische Debatte in Rheinland-Pfalz ebenso wie der Zustand unseres Bildungssystems im Lichte der Erkenntnisse aus der so genannten Pisa-Studie. Themen, die auch beim Landeselterntag gestern in Alzey behandelt wurden.
über die Pisa-Studie sprach Bildungsministerin Doris Ahnen (SPD) mit dem Bielefelder Bildungsexperten Otto Herz. „Fördern und Fordern statt Auslesen – Perspektiven nach Pisa“, so der Titel des Podiumsgesprächs. Herz vertritt beispielsweise die Auffassung, dass individuelles Lernen den Kindern mehr bringt als Lernen auf Kommando, dass Schüler mehr gesellschaftliche Verantwortung übernehmen könnten, als ihnen gemeinhin zugebilligt wird. Er wirft dem konventionellen Schulsystem vor, überwiegend Themen der Vergangenheit aufzugreifen, statt fachübergreifend und fächerverbindend Zukunftsstudien zu betreiben. Herz‘ Argument: Ein Kind, das heute geboren wird, wird bis etwa 2080 leben; da ist es wichtig, das zu erforschen, was die Welt von Morgen bestimmen wird. Angesichts des Globalisierungsprozesses sei da das Kennenlernen anderer Kulturen immens wichtig, weshalb Schüler der Sekundarstufen mindestens ein halbes Jahr im Ausland verbringen sollten, finanziert durch Eigenarbeit und staatliche Zuschüsse, wie Herz in einem Zeitungsbeitrag schreibt.
Was sein könnte, ist das eine, was Schulrealität ist, darüber sprachen Elternvertreter in acht kleineren Arbeitskreisen. Ein Thema dabei: die Mitarbeit der Eltern in der Ganztagsschule. Es ging um praktische Erfahrungen mit dem „Lieblingskind“ von Bildungsministerin Ahnen. Doch was Väter und Mütter berichteten, ist für das Ganztagsschul-Konzept der Ministerin alles andere als schmeichelhaft. Birgit Burkey, Schulelternsprecherin der Wendelinus-Grundschule in Ramstein, ist froh, dass ihr Kind am „normalen“ Angebot teilnimmt und sie es nicht für das Ganztagsangebot angemeldet hat. 153 der 480 Schüler werden an der Schule ganztags betreut. Burkey berichtete, dass es beispielsweise sehr schwierig sei, Vereine für die Mitarbeit zu gewinnen. Diese verpflichten sich nicht nur für ein bestimmtes Arbeitsgemeinschafts-Angebot, sondern müssten auch sicherstellen, dass Vertretungskräfte im Krankheitsfall bereitstehen. „Das können sich die Vereine nicht leisten“, glaubt Burkey.
Probleme sieht sie darüber hinaus bei den Hausaufgaben-Stunden. Da zu wenig Lehrer-Wochenstunden zur Verfügung stünden, seien die Gruppen mit über zwanzig Schülern einfach zu groß. „Machen sie da mal Hausaufgaben“, beschreibt die Mutter eines der Probleme aus der Praxis. Die Situation verschärfe sich, wenn ein Lehrer ausfalle, so dass ein einzelner Kollege dann 40 Schüler zu beaufsichtigen habe. Burkey wirft der Landesregierung vor, die Ganztagsschule „auf Biegen und Brechen eingeführt“ zu haben. „Und das wird jetzt auf dem Rücken der Eltern ausgetragen“, sagt sie.
Ein Urteil, das auch andere Eltern teilen. Es könne nicht sein, dass die Mitarbeit von Eltern über kurz oder lang zum Muss werde, um den finanziell klammen Staat bei seinen Aufgaben zu entlasten. Und so beschwerte sich ein Vater aus Monsheim (Kreis Alzey-Worms), dass hinter dem Ganztagsangebot der Halbtagsschulen ein unausgereiftes pädagogisches Konzept stehe. „Das können die Eltern nicht leisten, was da verlangt wird“, sagt er. Viele Eltern würden ihre Kinder außerdem gerade deshalb am Ganztagsangebot teilnehmen lassen, weil sie aus beruflichen Gründen nicht die Zeit für sie hätten, so eine andere Teilnehmerin. Das Ergebnis sei, dass sich einige wenige Eltern verstärkt auch für die anderen Sprösslinge engagierten und sich über kurz oder lang ausgenutzt fühlten.
In einem Punkt waren sich die Elternvertreter des Arbeitskreises weitgehend einig: Die Ganztagsschule dürfe nicht nur eine Halbtagsschule mit Betreuung sein. Oder, wie ein Vater sagt: „Wenn das Ganztagskonzept nicht mehr als die Aufbewahrung vorsieht, kann mein Sohn auch zu Hause bleiben.“ Einige Elternvertreter lehnen das Ganztagsangebot der Halbtagsschulen deshalb ganz ab. „Wenn der billige Weg gangbar ist, wird es den anderen Weg nicht geben“, so eine Mutter aus dem Raum Bitburg. Andere wiederum befürworten den Einstieg in die Ganztagsschule, sehen aber noch erheblichen Nachbesserungsbedarf.
über positive Erfahrungen wurde ebenfalls berichtet, allerdings aus reinen Ganztagsschulen. Elke Löwe, Schulelternbeiratsmitglied der Integrierten Gesamtschule Ernst Bloch aus Ludwigshafen-Oggersheim findet es beispielsweise sehr wichtig, dass Eltern durch die Beteiligung am Ganztagsangebot Einblicke in soziale Zusammenhänge, etwa Ursachen von Streitereien zwischen den Schülern bekommen. Regelrecht begeistert zeigten sich die Elternvertreter von dem Beispiel einer im Aufbau befindlichen Schule in Schweich (Kreis Trier-Saarburg). Referentin Karin Lenerz, Englischlehrerin am dortigen Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium, beschrieb einen Schulalltag, der vielen Anwesenden geradezu ideal vorkam. Die seit knapp eineinhalb Jahren bestehende Schule wird von einer privaten Stiftung finanziert, wobei kein Schulgeld verlangt wird, ein Beitrag zum Schulverein aber üblich ist.
„Bei uns gibt es keinen Pausengong“, so einer der vielen überraschenden Punkte, von denen Lenerz erzählte. Unterricht werde in Doppelstunden gehalten, Unterrichtspausen im Rahmen der Doppelstunden bei Bedarf eingeschoben. Gemeinsam mit sieben Vollzeitkräften betreut die Lehrerin 116 Kinder der fünften und sechsten Klasse. Schüler und Lehrer sind von acht Uhr morgens bis 16 Uhr nachmittags in der Schule, nehmen gemeinsam das Mittagessen ein. Mittwochnachmittag ist frei. Vorteil dieser Schule: Die Mitarbeit der Eltern ist nicht nur ausdrücklich erwünscht, sondern die Eltern werden auch als gleichberechtigte Partner wahrgenommen und in die Gestaltung von Unterricht und Schulleben einbezogen, wovon sie laut Lenerz intensiv Gebrauch machen. Vielleicht ist ja auch die Schule auf Dauer lernfähig.
Von Marco Heinen