Für die Ausgabe 3/1985 unserer Verbandszeitschrift, damals "Rundschau", interviewte die Redakteurin Ute Alt den Bevölkerungswissenschaftler Prof. Dr. Josef Schmid von der Universität Bamberg. Die Aktualität des 20 Jahre alten Textes ist augenfällig.
Herr Professor Schmid, worin liegen Ihrer Meinung nach die Ursachen für den Geburtenrückgang?
Die ersten Geburtenrückgänge größeren Stils fallen ja noch in die Zeit der Jahrhundertwende und danach. Wir wissen heute, daß es sich dabei um einen Anpassungsvorgang im Zuge der industriellen Revolution gehandelt hat. Die Zurückdrängung der Kindersterblichkeit, die Schaffung eines sozialen Sicherungssystems u.a.m. machten Kinder mehr und mehr zum Investitionsgut, zum Kostenfaktor für Eltern. Wenige, dafür aber für den Lebenskampf gut gerüstete Kinder, war die Parole. Beim heutigen Geburtenrückgang mischen sich alte Gründe, wie Einbußen am Lebensstandard, mit neuen Gründen, wie Schlechterstellung der jungen Familie mit Kindern und vielfach der Verlust der sozialen Eigenständigkeit der Frau.
Welches sind die jetzt schon erkennbaren und möglichen Folgen des Geburtenrückgangs?
Die Folgen sind für uns noch unübersehbar, weil wir für diesen Vorgang kein geschichtliches Beispiel kennen. Fest steht jedoch, daß die künftige Altersstruktur den Weg von der Pyramide zum Pilz nehmen wird, daß Probleme der Rentenfinanzierung auftreten werden, auch der Erhaltung der gewohnten Infrastruktur und mancher industrieller Standards. Um die Wirtschaftskapazität nicht sinken zu lassen, wird technische Innovation und Rationalisierung weiterhin gefragt sein. In Zukunft werden dezimierte Jugendjahrgänge Anforderungen einer Hochtechnologie-Gesellschaft entsprechen müssen, um dadurch zum noch kostbareren lnvestitionsgut zu werden.
Glauben Sie, daß die Rolle der Frau für die Familie früher und heute ausreichend analysiert worden ist?
Steigender Bildungsgrad und die Berufserfahrung haben der Frau zu mehr Selbständigkeit, aber auch zu einem größeren Wunsch nach Eigenleben verholfen. Ihre Ansprüche an ein intaktes Ehe- und Familienleben sind ebenfalls gewachsen, wie ihre größere Scheidungsbereitschaft zeigt. Ich glaube, daß es eine eigentliche Frauenrolle nicht mehr gibt, ja gar nicht mehr geben darf. Es gibt kein festes Rollenschema mehr, in welches die Frauen zu drängen wären – Gott sei Dank! Die Familienforschung ist erst jüngst dabei, dies zur Kenntnis zu nehmen.
Bevölkerungspolitik wird heute von nicht wenigen Politikern als Eingriff in die Würde und Freiheit des Menschen bezeichnet und abgelehnt. Gibt es objektive rationale Kriterien, die eine aktive Bevölkerungspolitik notwendig erscheinen lassen?
Ich glaube, daß die Bevölkerungspolitik des Dritten Reiches, die ja eine Auslesepolitik mit schlimmsten Folgen war, eigentlich nicht mehr dazu dienen soll, die Frage einer Bevölkerungspolitik für die Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen oder zu unterbinden. Es wäre verhängnisvoll, wenn hiermit ein politischer Handlungsbereich blockiert und paralysiert würde, um den man ja doch nicht herumkommt. Die Ängste, daß der Staat damit zu sehr in das Privatleben des Menschen eingreife, lassen sich abbauen, vor allem mit dem Hinweis, dass dies Steuergesetze und Finanzämter in viel größerem Ausmaße schon tun.
Eine Bevölkerungspolitik hätte Freiheit und Würde des Einzelnen nicht anzutasten und in einem zweiten Schritt dafür zu sorgen, daß offensichtliche Ungerechtigkeiten, denen die junge Familie mit Kindern heute ausgesetzt ist, behoben werden. Das Geburtenaufkommen der BRD ist das niedrigste der Welt und liegt anhaltend um ein Drittel unter dem, was nötig wäre, um die gegenwärtige Generation zu ersetzen.
Wir verzeichnen heute eine sinkende Heiratsneigung und eine steigende Kinderlosigkeit von Ehepaaren. Ein Teil wird auf die grassierende Egozentrik unserer modernen Gegenwart zu schieben sein, manches aber auch auf die Sorge, erreichte Standards zu verlieren oder erreichbare Lebensvorstellungen nicht verwirklichen zu können. An solch einem wichtigen Punkt haben Staat und Gesellschaft für Beruhigung zu sorgen.
Bevölkerungspolitik müßte größtenteils eine Familienpolitik sein und ein günstiges Klima schaffen, in dem der Einzelne feste Partnerbindungen und Nachwuchs nicht zu scheuen bräuchte. Der Staat wäre aufgerufen, sich zu einer Verantwortung auch für die Quantität der nachwachsenden Generation zu bekennen – wie das in Frankreich selbstverständlich ist. Mit Verbesserung des Lastenausgleichs müßte man auch dem ordnungspolitischen Widerspruch zu Leibe rücken, daß die Kosten der älteren Generation zur Gänze von der Gesellschaft getragen werden, während Kinderkosten über die Hälfte "Privatsache" sind.
Familienpolitische Maßnahmen sehen, wenn überhaupt, finanzielle Maßnahmen zur Besserstellung der Familie als Ganzes vor. Sie berücksichtigen nicht die zentrale Stellung der Hausfrau in der Familie, sie vernachlässigen total die Mutter als Individuum und Arbeitskraft.
Ein entscheidender Punkt ist, daß viele Frauen mit ihrer Eheschließung auf ihre eigenständige soziale Existenz verzichten. Aufgrund der hohen Scheidungsraten müßte man ja Frauen schon zur Vorsicht mahnen (falls das noch nötig ist). Man wird nicht umhin können, den starren Entscheidungszwang für Frauen, zwischen Beruf und Familie wählen zu müssen, aufzuheben. Es muß möglich sein, in bestimmten Lebensphasen sich der Familie, in anderen der Erwerbstätigkeit zu widmen, aber auch beides vereinbar zu machen. Der Trend zur Flexibilität der Arbeitsverhältnisse ist hier ein Hoffnungsschimmer. Ich glaube, daß damit die Neubewertung von Kindererziehung und Frauenarbeit in Haus und Familie wiederum Anerkennung erfährt Wir wissen inzwischen, daß bei einer ölknappheit noch lange nicht die Lichter ausgehen. Sie werden es aber bei fortschreitenden Geburtenrückgängen und Auflösung der Familie. Es ist falsch und überholt, die Menschen nur nach der offiziellen Erwerbstätigkeit zu bewerten und zu entlohnen.