Kann Bevölkerungswissenschaft womöglich spannend sein? – Ausgabe 2006/3

Ein Aufsatz von Monika Bunte zu Herwig Birg:

Die ausgefallene Generation – Was die Demographie über unsere Zukunft sagt

Ich wünschte, ich könnte die 150 Seiten dieses Buches auswendig lernen, dann hätte ich seine Argumente, Beweisführungen und Differenzierungen stets parat: Bevölkerungsprognose, Bevölkerungsprojektion, Bevölkerungsvorausberechnung.
Damit wäre ich in jeder Diskussion um Bevölkerungspolitik stärker als die "Gelegenheitsdemographen", wie der Autor sie mit einer kleinen Bitterkeit nennt.

Herwig Birg (1) war bis zu seinem Ruhestand ein renommierter Bevölkerungswissenschaftler an der Universität Bielefeld. Er ist Mitbegründer des neuen "Instituts für Demographie, Allgemeinwohl und Familie".

An den Anfang seines Buches stellt er ein unglaublich interessantes Kapitel Wissenschaftsgeschichte: Der Berliner Gelehrte Johann Peter Süßmilch veröffentlichte 1741 ein Werk, das als Wegbereiter und Klassiker der Demographie angesehen werden kann. Leider folgte auf Süßmilch der zweite große Klassiker der Demographie, Thomas Robert Malthus, mit seinem "Bevölkerungsgesetz".

Zitat Birg: "Es gibt nichts Nützlicheres als eine richtige Theorie, aber auch nichts Schädlicheres und Gefährlicheres als eine falsche", und "wenn eine falsche gesellschaftliche Theorie durch politisches Handeln zur Praxis wird, sind Menschenleben in Gefahr." – Tatsache ist: das "Bevölkerungsgesetz" von Malthus erwies sich schon zu seinen Lebzeiten als falsch. Malthus hatte übrigens Süßmilchs Werk studiert, sein Datenmaterial manipuliert und abgekupfert; den Namen Süßmilch nannte er nicht. – Ich kann hier die drei Prämissen für das "Bevölkerungsgesetz" nicht weiter ausführen. Selber lesen! Spannend! – aber was jetzt, nach 250 Jahren noch gilt, hatte Süßmilch richtig gesehen: "mit steigendem Wohlstand nahm die Kinderzahl nicht zu" (wie Malthus meinte) "sondern ab".

In der Geschichte der Bevölkerungswissenschaft spielt der Nationalsozialismus eine verhängnisvolle Rolle (vgl.1). Birg sucht und findet die geistigen Wurzeln der rassistischen braunen Bevölkerungslehre bei Malthus und seinem falschen "Bevölkerungsgesetz".

Wie lange kann die Weltbevölkerung noch wachsen? Wieviele Menschen kann die Erde (er-)tragen? Schöne übersichten mit eindrucksvollen Zahlen beschäftigen sich mit diesem Thema. "Die bestandserhaltende Geburtenrate der Weltbevölkerung als Ganzes liegt bei etwa 2,1-2,2 Lebendgeborenen pro Frau. Setzt sich der weltweite Rückgang der Geburtenraten fort" (was vorher belegt wurde) "könnte der bestandserhaltende Wert schon in drei bis vier Jahrzehnten erreicht sein und danach sogar unterschritten werden." Um die Mitte des Jahrtausends würden 7,9Mrd. Menschen leben, statt heute 6,5Mrd. Die Genauigkeit der Vorausberechnung der Weltbevölkerung hat sich ständig erhöht.

Angesichts dieser gewaltigen Zahl spielen die gut 80 Millionen Menschen in Deutschland nur eine winzige Rolle. Deutschland hatte seit 1987 keine Volkszählung mehr, was der Autor sträflich findet. Deutschland hält unter den 200 Ländern der Erde drei demographische Weltrekorde: Es ist das Land, in dem die Bevölkerungsschrumpfung infolge geringer Geburtenzahl am frühesten begann, etwa 1970. Zweitens ist die Geburtenrate ähnlich in anderen Ländern, 1,3-1,4 pro Frau. "Aber der Grund für das niedrige Niveau ist der weltweit einmalig hohe Anteil der Frauen (und Männer) an einem Jahrgang, die zeitlebens kinderlos bleiben." Drittens werden stärker als in anderen Industrieländern fehlende Geburten durch Einwanderungen ersetzt.

"Würde man die Geburtenrate der deutschen Bevölkerung – also ohne die der Zugewanderten – mit der der Spanier und Italiener vergleichen, würde man weitgehende Gleichheit feststellen, obwohl in Deutschland das meiste Geld und in Italien fast überhaupt nichts für die Förderung von Familien mit Kindern ausgegeben wird." Die Demographie bezeichnet die Gesamtheit der Bedingungen und Motive als "generatives Verhalten".

Je älter die Bevölkerung, umso höher ihre Sterblichkeitsrate, da der Saldo aus Geburten (Fertilität) und Sterbefällen (Mortalität) immer größer wird, bis schließlich die Phase der Schrumpfung eintritt. Deutschland befindet sich seit 30 Jahren in der Schrumpfungsphase.

Für die ganze Erde werden Bevölkerungsvorausberechnungen erstellt. Dabei geht es u.a. um die demographische Alterung: das Durchschnittsalter steigt und das Verhältnis aus der Zahl der älteren Bevölkerung zur Bevölkerung mittleren Alters vergrößert sich. Die demographische Alterung lässt sich für die nächsten 50 Jahre nicht mehr aufhalten. Die entscheidende Ursache dafür ist der nicht mehr änderbare Rückgang der Geburtenrate in der Vergangenheit.

Sämtliche Bundesländer und Gemeinden in Deutschland sind von der demographischen Alterung betroffen, wobei es bei den Gemeinden und Bundesländern bei 4,8Mio. Wohnungswechseln im Jahr eine Gewinner- und eine Verlierergruppe gab und geben wird. Die zugewanderte Bevölkerung wird bei den unter Vierzigjährigen in vielen Großstädten in wenigen Jahren die absolute Mehrheit erreichen.

Von den zehn sog. "koordinierten Bevölkerungsvorausberechnungen" der Statistischen Landesämter ging die neunte von der wirklichkeitsfremden Annahme aus, dass die Lebenserwartung ab dem 1.1.2000 nicht mehr zunimmt. Das Zahlenwerk dieser Vorausberechnung lag unter anderem der Blümschen Rentenreform zugrunde.

Bei den Bevölkerungsvorausberechnungen stört mich ein Wort: Die Rede ist vom "südlichen Hinterland Europas". Das sind 25 Länder: die südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers zuzüglich Türkei, Iran, Irak und die Länder der Arabischen Halbinsel bis Afghanistan und Pakistan. Die Bevölkerungszahl wird sich dort bis 2050 mehr als verdoppeln. Wie finden diese vielen Menschen wohl die Bezeichnung "europäisches Hinterland"?

Nach Birg betrachtet die Wirtschaftswissenschaft die Gründe des Bevölkerungsrückgangs aus einer anderen Perspektive als die Soziologie, die Biologie und erst recht die Demographie. – Seiner Meinung nach ist es ein grotesk unangemessenes Vorgehen, ein Kind, einen Menschen als "Konsumgut" oder langfristiges "Investitionsgut" zu bezeichnen, und den "Konsum- und Investitionsnutzen" des Kindes zu berechnen, "einen Nutzen, den das Kind aus der tunnelförmigen Sicht der ökonomik für die Eltern abwirft, wie ein Kapitalgut eine Rendite für den Eigentümer."

Bei den Gründen des Geburtenrückgangs spielen Weltkriege und Weltwirtschaftskrise, Änderung des gesamten Systems in den neuen Bundesländern, Zunahme der kompensatorischen Zuwanderung ebenso eine Rolle wie Auswirkungen der Frauenbewegung und Leitbilder der antiautoritären und "dezidiert antifamilialen Selbstverwirklichungsideologie". Konjunkturzyklen und Strukturveränderungen haben Einfluss. Verblüffend, "dass sich der Prozentsatz der zeitlebens Kinderlosen bei jenen Jahrgängen überdurchschnittlich stark erhöhte, bei denen die Arbeitsmarktlage in der Phase der Familienbildung besonders günstige berufliche Perspektiven bot. Daraus lässt sich schließen, dass die Verwirklichung beruflicher Ziele bei den meisten Menschen de facto Vorrang vor familialen Zielen hat."

Faktoren mit generationsspezifischen Auswirkungen sind Maßnahmen und Gesetze auf dem Gebiet des Ehe-, Scheidungs- und Familienrechts sowie Maßnahmen der Familienpolitik.
Herausragende Bedeutung räumt Birg der "verfassungswidrigen" Rentenreform 1957 ein. (Wenn Birg wüsste, mit wie vielen Klagen bezüglich Verfassungswidrigkeit der Altersversorgung wir vffm-Frauen beim Bundesverfassungsgericht vor die Wand gelaufen sind!)

"Der verfassungsrechtliche Skandal hat wahrscheinlich eine subtile, zerstörerische Wirkung auf die kulturelle Substanz unserer Gesellschaft und auf unsere rechtsstaatliche Kultur. Er ist der entscheidende Grund für den sinkenden Wunsch nach Kindern und für die fehlende Bereitschaft der Bürger, durch ihre Wahlentscheidungen eine Politik zu erzwingen, in deren Zentrum die Familie und nicht das abstrakte Interesse des Individuums steht, dessen Existenz ohne Familien nicht vorstellbar ist."

Alle aufgeführten Zahlen zeigen in aller Deutlichkeit, dass sich die zwei Teilgruppen, mit und ohne Kinder, immer stärker auseinanderspalten.
Die Befunde sagen noch nichts über die Gründe hinter den Gründen. Nach Birgs Meinung hängt die sinkende Geburtenrate "mit der schwindenden Bereitschaft und Fähigkeit zusammen, mit Partnern Bindungen einzugehen", wobei auch die objektive Bindungsfeindlichkeit globalisierter Wirtschafts-Gesellschaften eine Rolle spielt.

Bis zu diesem Kapitel war mehr von Geburten und Geburtenrate und Fertilität die Rede als vom Alter. – Im letzten Drittel seines Buches sagt Birg: "Die Wissenschaft ist weit davon entfernt, über eine überzeugende Theorie des Alterns zu verfügen. Eine zuverlässige Theorie wäre jedoch eine Voraussetzung für wissenschaftlich seriöse Aussagen über die Lebensspanne des Menschen und ihr mögliches Wachstum."

Birg gibt eine Definition für Alter, er erläutert Alten- und Jugendquotient und weist unter allen wichtigen Erkenntnissen zum wiederholten Mal darauf hin, dass die niedrige Geburtenrate in der Vergangenheit und nicht die Zunahme der Lebenserwartung der entscheidende Grund für die starke demographische Alterung bis 2050 ist. Weder Zuwanderung noch eventuelle Steigerung der Geburtenrate verhindern bis zur Jahrhundertmitte die demographische Alterung.

Im Kapitel Demographie, Wohlstand und öffentliche Wohlfahrt geht es darum, ob sich die Beiträge zur Alterssicherung verdoppeln oder die Renten halbieren. Die Auswirkungen der einen wie der anderen Möglichkeit auf öffentliche und private Versicherungen, öffentliche Infrastruktur und öffentliche Finanzen und auf Güter-, Kapital- und Wohnungsmarkt werden aufgezeigt. Die Frage an die Politiker muss lauten: Mit welcher Art von Politik lässt sich das erreichte Lebensniveau sichern? Sind die Ziele richtig positioniert? Stehen die menschlichen Werte vor den ökonomischen? Birg stellt mit einer gewissen Erbitterung fest:

"Nichts charakterisiert die Einstellung einer Gesellschaft gegenüber ihren existenziellen Zukunftsproblemen treffender als die Ziele, die sie nicht einmal mehr diskutiert, geschweige denn durch politische Anstrengungen aktiv verfolgt. (…) Die für die Sicherung des Wohlstands unabdingbaren ehrgeizigen Ziele wurden in der Politik stillschweigend aufgegeben, sie kommen im politischen Diskurs und in den Gutachten, die von Wissenschaftlern für Politiker angefertigt werden, nicht mehr vor." (2)

Die eigentliche Quelle aller Werte, derer der Mensch bedarf, ist der Mensch. "Soziale Sicherheit im Alter kann auch durch Kapitalbesitz nur dann gewährleistet werden, wenn die nachwachsenden Generationen mit Hilfe des Kapitals Erträge erwirtschaften; denn Kapital arbeitet leider überhaupt nicht." (3) – Nach diesem bemerkenswerten Satz geht Birg die sozialen Sicherungssysteme durch. Er rühmt das Rentenkonzept Wilfrid Schreibers von 1957 und tadelt Adenauers Abschmettern der Schreiberschen Familienkasse.

Die soziale Gerechtigkeit wird durch die Bevorzugung der Kinderlosen in allen öffentlichen Versicherungsarten verletzt. Birg diskutiert dann die Fragen: wie lässt sich das System reformieren, damit es funktionsfähig bleibt, gerecht funktioniert und die Verfassung nicht verletzt?

Da 90% der Bevölkerung als Grundlage der Alterssicherung die gesetzliche Rentenversicherung haben, steht der Staat als Ganzes auf dem Spiel, wenn das Versicherungssystem seine Funktionsfähigkeit verlieren sollte.

"Es ist allerdings zuzugeben, dass das Abwägen von kurz- und langfristigen Vor- und Nachteilen den Planungshorizont der an vierjährigen Wahlperioden orientierten Politik weit überschreitet. Wenn es die Politik nicht einmal zuwege bringt, ihre kurzfristigen Ziele zu erreichen und die Arbeitslosigkeit zu verringern, wie kann dann erwartet werden, dass sie die längerfristigen erreicht? Man sollte besser eine andere Rechnung aufmachen: wer keine Kinder hat, macht sich in der Regel weniger Gedanken um die Zukunft; Kinder sind und bleiben aber eine notwendige Bedingung dafür, dass es überhaupt eine Zukunft gibt." (4)

Musste die gewaltige wirtschaftliche Entwicklung der westeuropäischen Länder in den letzten 50 Jahren mit einem Verlust ihrer demographischen Stabilität und einem großen Teil ihres Humanvermögens bezahlt werden? Lässt sich der demographisch bedingte Konkurs Deutschlands abwenden? Lässt sich durch Kapitalexport in Niedriglohnländer nichts ändern?

"Dabei zeichnet sich für Deutschland ein neuer internationaler Konflikt ab. Da das deutsche Sozialversicherungssystem umlagefinanziert ist, während beispielsweise das britische und amerikanische auf Kapitaldeckung beruht, konnten sich in Deutschland keine international konkurrenzfähigen Kapitalfonds und keine international bedeutsamen Banken entwickeln. Die interessantesten deutschen Unternehmen werden von ausländischen Fonds übernommen. Da Deutschland über keine nennenswerte kapitalfinanzierte Altersvorsorge und keine entsprechende Finanzmacht verfügt, kommen die Dividenden seiner Unternehmen und die Zinsen seiner Staatsanleihen, die von der nachrückenden Generation erwirtschaftet werden müssen, ausländischen Pensionären zugute. Die Demographie ist wie ein siamesischer Zwilling mit der Wirtschaft verwachsen: Geht es dem einen schlecht, leidet auch der andere." (5)

Noch mehr Zitate gefällig?

"Je besser die Wirtschaft das Ziel eines hohen Pro-Kopf-Einkommens erreicht, desto unerschwinglicher werden Kinder", falls "Vereinbaren" schwierig ist – und das ist es ja wohl.
Die ökonomische Ausbeutung der Familien muss beendet werden, "damit der Wunsch nach Kindern wieder zu einem selbstverständlichen Leitbild der Persönlichkeitsentwicklung wird."

Birg stellt fünf Forderungen auf, von deren Erfüllung eine nachhaltige Erhöhung der Geburtenrate zu erwarten ist:
– 1. Familien- und zukunftsgerechtere Reformen der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung durch Berücksichtigung der Arbeits- und Erziehungsleistungen der Familien mit Kindern.

– 2. Einführung hochwertiger Betreuungseinrichtungen ab dem Vorschulalter sowie Ganztagsschulen (nicht Gesamtschulen) zur Unterstützung der Erziehungsleistungen der Eltern.

– 3. Erhöhung von Kinderfreibetrag, Kindergeld und Erziehungsgeld.

– 4. Änderung des Grundgesetzes zur Einführung eines Eltern- bzw. Familienwahlrechts.

– 5. Priorität für Mütter bei Stellenbesetzungen durch Frauen. (6)
(Warum nicht Priorität für Mütter bei Stellenbesetzungen? M.B.)

Birg vermutet, dass den Versäumnissen auf den Gebieten, die durch die fünf Punkte umrissen werden, nicht nur Gedankenlosigkeit zugrunde liegt, sondern ein historisch verwurzeltes tiefes Eingeständnis mit dem Abwärtstrend … eine Art Selbstbestrafung als Folge von Selbsthass.

Schade, dass Birg bei seiner sonst so klaren Sicht der Dinge nicht auf die Missachtung und Geringschätzung der Haus- und Familienarbeit als Grundübel eingeht und die logische Konsequenz in deren Bezahlung sieht. Hier ist sein sonst so klarer Blick offensichtlich getrübt.

Es gibt fast nichts, was im Buch nicht erwähnt wird:
Es ist dreißig Jahre nach Zwölf. Monika Bunte

Quellen:
1) Vgl. Fh 2/2003, Rezension
"Die demographische Zeitenwende" und Fh 3/2002, Kongressbericht
"Demographie und Wohlstand"
2) S. 113
3) S. 120
4) S. 132
5) S. 142
6) S. 147

Herwig Birg: Die ausgefallene Generation. Was die Demographie über unsere Zukunft sagt. C.H.Beck Verlag, München 2005. Gebunden, 157 Seiten, 16,90 Euro

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