von Wiltraud Beckenbach und Silke Bürger-Kühn
Am 27. und 28. Oktober 2015 fanden – wie alle 2 Jahre – die 5. Hohenheimer Familientage zum Thema „Familienleitbilder und Familienrealitäten“ statt.
Zu Beginn des ersten Tags führten Prof. Dr. Norbert F. Schneider, Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden, und Prof. Dr. Sabine Walper, Forschungsdirektorin des Deutschen Jugendinstituts in München, die Teilnehmenden in das Thema „Familienleitbilder und -realitäten“ ein.
In Prof. Schneiders Vortrag wurde Bekanntes griffig zusammengefasst: trotz aktuell steigender Geburtenzahlen bleibt die Geburtenrate unverändert niedrig, denn die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter nimmt kontinuierlich ab. Hausarbeit wird überwiegend von Frauen verrichtet. Neu für uns: Frauen tragen mit durchschnittlich 23 % zum Familieneinkommen bei, egal ob Kinder im Haushalt leben oder nicht. Und Deutschland ist das einzige Land, in dem die Mutterrolle so negativ besetzt ist. Der Erwartungsdruck auf Mütter könne nur zum Scheitern führen. 23 % der Frauen seien lebenslang kinderlos. Die Infrastruktur spiele jedoch keine essentielle Rolle hierfür, werde aber von der Politik für am wichtigsten erachtet.
Jede Politik müsse die kulturellen Besonderheiten eines Volkes beachten: In Deutschland sind 78 % der Bevölkerung davon überzeugt, dass ein Kleinkind leidet, wenn die Mutter erwerbstätig ist, in Südkorea sind es nur 46 %. Außerdem habe sich das Verständnis dafür geändert, was Familie überhaupt sei.
Prof. Schneider führte auch in den Begriff „Leitbild“ ein, als einer kollektiv geteilten Vorstellung davon, wie etwas zu sein habe. Ein Leitbild stifte kulturelle und soziale Identität. Es könne sich jedoch durch ein Ereignis abrupt ändern, überfrachtet und widersprüchlich werden.
Seine Erwartung an die Familienpolitik sei die Verbesserung der Lebensqualität von (potentiellen) Familien, dazu gehöre es, sowohl Strukturen zu schaffen als auch den Druck von den Eltern zu nehmen.
Prof. Walper beschrieb den Wandel der Erziehungsziele vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt und dass die Kinder heute mehr Zeit von ihren Vätern für sich forderten.
Die Verteilung der Familienformen habe sich seit 1996 nicht wesentlich geändert. Besonders wichtig für Kinder sei das Familienklima. Die meisten Jugendlichen wünschten sich eine Familie, wobei die soziale Herkunft den Zusammenhalt in den Familien präge. Bei dem anschließenden Austausch wurde festgestellt, dass in Deutschland die Leitbild-Diskussion erbittert geführt werde – nur die eigene Meinung gilt – und sich zudem die strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber Familien nicht geändert habe.
Wir nahmen an zwei der angebotenen vier Denkwerkstätten teil:
„Partnerschaftliche Arbeitsteilung – neue Modelle in Familie und Arbeitswelt?“
(wbb) Gundula Zoch von der „Bamberg Graduate School of Social Sciences“ erklärte die Arbeitsteilung im hauswirtschaftlichen Bereich sei kaum verändert: Frauen machen dort nach wie vor die meiste Arbeit, übernehmen ab der Geburt des ersten Kindes noch mehr und bleiben auch dabei. Eine etwas gerechtere Arbeitsteilung gebe es bei zusätzlicher Erwerbsarbeit der Frau (egal, ob Teilzeit oder Vollzeit). Nach einer Elternzeit von Vätern sollte sich deren Anteil an der Familienarbeit verstärken. Die langfristige Wirkung könne noch nicht abgeschätzt werden.
Heute nehmen mehr Väter kürzer Elternzeit in Anspruch als bei der Erstregelung, meist nur zwei Monate.
„Zeitpolitik für Familien“
(sbk) Dr. Martina Heitkötter, Deutsches Jugendinstitut München, stellte fest, dass das gravierendste Problem der Familien die Zeitnot sei: häufiger Stress, viel zu wenig Familienzeit (dazu zählen alle Zeiten außerhalb von Erwerbstätigkeit und Ehrenamt) und tägliche Zeitkonfl ikte. Nach wie vor leisteten Frauen 2/3 der unbezahlten Arbeit, stellten 72 % der Pflegepersonen, und 70 % der Mütter stemmten die Hausarbeit alleine.
Fürsorge brauche aber Zeit, kindliche Bedürfnisse seien meist unaufschiebbar. In der Gesellschaft stehe Erwerbswelt contra Familie. Ein hoher Druck laste auf Familien durch unsichere Übergänge von der Familienzeit in die Erwerbsarbeit und durch unzureichendes Einkommen bei nur einem Verdiener. Hier versage die Politik. Sie müsse mehr auf die zeitlichen Belange der Familie eingehen.
Der erste Veranstaltungstag endete inhaltlich mit einem Impuls von Prof. Dr. Wolfgang Mazal, Arbeits-, Sozial- und Medizinrechtler an der Universität Wien, zum Thema „Work-Life-Balance in Deutschland und Europa“. Besonders interessant waren die Unterschiede, wie sich die individuell gefühlte Lebensfreude durch die Geburt eines Kindes erhöhe. In Norwegen würden Kinder viermal so stark bejaht wie in Deutschland. Mazal war es auch, der ein Erziehungsgehalt forderte.
Am zweiten Tag ging es um „Anspruch und Wirklichkeit: Hat sich die Familienfreundlichkeit in Deutschland in den letzten vier Jahren verbessert?“ Stefan Becker, Geschäftsführer der berufundfamilie GmbH und Präsident des Familienbundes der Katholiken und Petra Mackroth, Leiterin der Abteilung Familie im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend referierten.
Stefan Becker berichtete erstaunlich offen über den Zwiespalt, der sich für ihn oft aus seiner Tätigkeit in beiden Gremien ergebe. Er erklärte die Zertifizierung „Familienfreundlicher Betrieb“, deren Ansprüche aber nicht so leicht zu erfüllen seien, die inzwischen bei Firmen aber sehr gefragt sei.
Das Thema „Vereinbarkeit“ habe in der Gesellschaft an Stellenwert gewonnen. Es fehle aber an qualitativ hochwertigen Kitas. Nach wie vor stünden die Belange der Firma im Vordergrund, nicht die der Familie.
Eine familiengerechte Politik müsse von der Gesellschaft getragen werden. Die Erfahrung zeige jedoch, dass sich Familien- und Berufsleben schneller ändern als die Familienpolitik. In Zukunft müsse bei der Vereinbarkeit die Familie zum Maßstab gemacht und ehrenamtlicher Tätigkeit voraus.
Petra Mackroth berichtete nur Bekanntes. Sie ging allerdings als Einzige sorgfältig mit
dem Arbeitsbegriff um.
An zwei Workshops konnten wir wieder teilnehmen:
„Ganzheitliche Bildung und Betreuung im Sozialraum“
(wbb) Leider bekamen wir hier nicht einen Bericht von praktizierendem Betreungspersonal, sondern Dr. Wüst, Leiter der Karl-Kübel-Stiftung aus Bensheim, schilderte, wie seine Organisation versuche, bundesweit die verschiedenen Gruppierungen zusammenzuführen, die sich mit Bildung und Betreuung befassen.
Ziel sei die Stärkung der Familie als eine Art Wegweisung für Eltern in Sachen Kinderbetreuung. Verschiedene Bedürfnisse und Wahlfreiheit in der Betreuung – ob selbst oder durch andere – sei dabei vorrangig. Die Vernetzung solle die unterschiedlichen Gremien für Betreuung erfassen, da diese sich häufig gut ergänzten.
Die meisten TeilnehmerInnen, die aus der Praxis kamen, begrüßten dieses Vernetzungsvorhaben sehr, da oft zu viele Organisationen und Anlaufstellen nichts voneinander wüssten. Eine kleine Diskussion entflammte, als Dr. Wüst vom christlichen Menschenbild seiner Stiftung sprach und sofort kritisch aus dem Publikum hinterfragt wurde, was das denn sei.
Ich finde es inzwischen mehr als bedenklich, wenn immer wieder allgemeingültige Verhaltensregeln im täglichen Zusammenleben herabgewürdigt werden, sobald sie als christlich bezeichnet werden. Die Antwort des Referenten war leider auch wachsweich. Ich habe ihn in einem persönlichen Gespräch gebeten, doch hinter diesem Begriff zu stehen, da er durchaus klare Werte beinhalte, deren man sich nicht schämen müsse.
„Work-Life-Balance”
(sbk) Den Impuls gab Barbara Hipp, Referentin für Personalentwicklung, Abt. Theologie und Bildung des Diakonischen Werks der evang. Kirche in Württemberg e.V., Stuttgart. Sie ging ein auf widersprüchliche Erwartungen von Erwachsenen und Kindern, Männern und Frauen und berichtete über unterschiedliche Reaktionen von Führungskräften zum Thema „Vereinbarkeit“. Diese gingen von „wir machen schon so viel, das geht nicht auch noch“ über die Meinung, mit dem Angebot des Schichtmodells und Teilzeit sei alles abgedeckt bis zur individuellen Variante, wo die Probleme der einzelnen MitarbeiterInnen bekannt waren. Sie äußerte ihr Unverständnis darüber, dass kirchliche Einrichtungen die eigenen vorhandenen Strukturen, wie z.B. Kindergärten, nicht dazu nutzten, die Mitarbeiter/innen zu unterstützen und zu binden, z.B. durch Vorrang bei der Besetzung der Plätze. Im Workshop wurde einmütig eine Grundrente für Erziehungs- und Pflegearbeit gefordert, Familienförderung sei eine gesellschaftliche Aufgabe. Informationen zu Förderungen in diesem Bereich sollten leicht zugänglich sein. Hier sei die Politik gefordert.
Die abschließende Podiumsdiskussion mit den Referierenden das Vormittags sowie Kirchenrat Jürgen Rollin, Vorstandsmitglied des Diakonischen Werks der Evang. Kirche in Baden e.V., brachte nichts Neues. Mehrfach reklamierten wir den Umgang mit dem Arbeitsbegriff, der immer wieder nur für die bezahlte Arbeit verwendet wurde. Dafür – wie überhaupt – bekamen wir viel Zustimmung. Erfreulich: unsere Zeitungen gingen reihenweise weg.
Unter diesem Link ist die Tagungsdokumentation nachzulesen:
http://fafo-bw.de/FaFo/Publikationen/Tagungsdok_2015-10-27.jsp