Für eine klassenfreie, solidarische Arbeitsgesellschaft in marktwirtschaftlicher Ordnung

von Hans Ludwig in der fh 1/24

 

Was sind die aktuellen Probleme und Herausforderungen, auf die eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung Antwort geben muss? Eine auch volkswirtschaftlich mögliche und gesellschaftlich sinnvolle Lösung wäre die Bezahlung der CareArbeit:

 

I. Krisenerscheinungen:

Um die Jahreswende 2023/24 häufen sich die Krisenmeldungen über die wirtschaftliche und soziale Ordnungs- und Finanzpolitik. Die Politik und das Reagieren der Ampelkoalition um das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Einhaltung der Schuldenbremse zeigten wenig Einigkeit und Bereitschaft, die richtigen Konsequenzen zu ziehen.

  • Neben der Zunahme der Rechtspartei AFD bereiten sich zwei neue Parteien auf ihre Gründung vor: Sahra Wagenknecht und Hans-Georg Maaßen, der frühere Präsident des Verfassungsschutzes versuchen mit nicht geringen Erfolgsaussichten am rechten und linken Rand unseres Volksparteienspektrums Einfluss zu gewinnen. Diese Zersplitterung des Parteienspektrums erinnert an die Weimarer Republik.
  • Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem Jahresgutachten auf das demografische Problem aufmerksam gemacht, das die Zukunft unserer sozialen Sicherung in Frage stellt.
  • Die neueste PISA-Studie hat die deutschen Schüler im internationalen Vergleich so schlecht wie nie zuvor verortet. Hauptursache ist der Ausfall von Unterrichtsstunden aufgrund des Lehrermangels und die nicht gelingende Integration der Kinder mit Migrationshintergrund.
  • Aber auch schon vorher reichten die Betreuenden in KITAS und Kindergärten nicht aus. Es fehlen 500.000 Kitaplätze.
  • Handwerk und Industrie klagen darüber, dass sie keine Auszubildenden finden. Viele Ausbildungsstellen bleiben unbesetzt, mit verheerenden Wirkungen auf das künftige Angebot an Facharbeitern.
  • Der deutschen Wirtschaft entgehen jetzt bereits riesige Wachstumspotentiale, weil zu wenig Fachkräfte vorhanden sind.
  • Katastrophal sind inzwischen die Zustände in unseren Pflegeeinrichtungen. Es fehlen Plätze in der stationären Pflege. Immer mehr Einrichtungen müssen teilweise oder ganz schließen, weil Personal fehlt.
  • Wer mit chronisch kranken Menschen zu tun hat, wundert sich, dass Apotheken nicht mehr in der Lage sind, gängige Medikamente vorrätig zu halten.
  • Wer umzieht, wird feststellen, dass es in Deutschland fast unmöglich ist, als Neubürger einen Termin bei Fachärzten zu bekommen.
  • Die niedergelassenen Ärzte haben in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr „gestreikt“. Gründe: Fehlendes Personal, zu niedrige Vergütungen.
  • Viele Krankenhäuser stehen vor der Insolvenz
  • Die Politik nimmt die Probleme nicht wirklich wahr. Auf die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass der Haushalt für 2024 verfassungswidrig sei, reagierten fast alle Parteien reflexartig mit der Forderung, dann müsse an der Kindergrundsicherung oder am Familiengeld gestrichen werden.
  • Als das Bundessozialgericht urteilte, dass Ärzte im Bereitschaftsdienst nicht als Selbständige oder Freiberufler, sondern als normale Arbeitnehmer Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung zu leisten hätten, kam es zu einer bundesweiten Verweigerung, unter diesen Bedingungen zu arbeiten.
  • Dieselben Probleme bezüglich Steuer- und Sozialversicherungspflicht gab es vor einigen Jahren, als dasselbe Gericht über die Bezahlung ausländischer Pflegekräfte in privaten Haushalten ähnlich urteilte.

Es scheint sinnvoll und notwendig, die Ursachen für diese Krisen tiefer zu ergründen und in eine neue programmatische Diskussion unseres Systems einzusteigen, die sich allerdings auch der „faulen Kompromisse“ der Vergangenheit annehmen muss.

 

II. „Sozial temperierter Kapitalismus“ oder doch Soziale Marktwirtschaft

Immer wenn es um das Soziale ging, wurde die idealtypische Konzeption der sozialen Marktwirtschaft verraten. Als Prof. Schreiber 1957 die Drei-Generationen-Solidarität in das System der dynamischen Rente einführen wollte, hat Konrad Adenauer das mit Blick auf das Wählerpotential der älteren Bevölkerung abgelehnt und sich von Kardinal Frings, dem damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, gerne unterstützen lassen. Aus diesem Konflikt stammt der Adenauer zugeschriebene Satz: „Kinder kriejen de Leute immer!“

Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang das 1967 verabschiedete „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“, mit dem erstmalig eine Globalsteuerung der vier wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziele (Magisches Viereck) beschlossen wurde.

1. Das eindeutige Ziel Vollbeschäftigung wurde durch die schwammige Formulierung „hoher Beschäftigungsstand“ auf das bis dahin Erreichte reduziert. Insbesondere die nicht in die Erwerbsarbeit integrierte Care-Arbeit blieb wieder außen vor.

2. Die Geldwertstabilität wurde in der Folge mit 2 % tolerierbarer Inflation, bis zu der die Notenbank nicht tätig wird, relativiert.

3. Mit dem Aufgeben des Zieles der Vollbeschäftigung entsteht die Notwendigkeit, ständig angemessenes Wirtschaftswachstum zu generieren. Wäre Vollbeschäftigung erreicht, kann es kein reales Wachstum mehr geben, dann wäre das wirtschaftspolitische Ziel Wachstum irrelevant.

4. Am meisten Probleme verursacht das Ziel Außenwirtschaftliches Gleichgewicht.

Die Bundesrepublik als chronisches Überschussland verschenkt bis zu 10 % ihres Sozialproduktes an das Ausland, weil sie mehr Güter und Dienste ans Ausland liefert (Exporte), als es vom Ausland anzunehmen bereit ist (Importe). Diese Politik wird von den Fachökonomen als „Beggar thy neighbour policy“ bezeichnet, also als eine Politik, die die Nachbarn zu Bettlern macht. Offensichtlich wird das chronische Missachten des außenwirtschaftlichen Gleichgewichtes nicht als Problem gesehen, einige sehen darin sogar ein besonders erfolgreiches Wirtschaften. Das Problem kann man lösen, indem man die inländischen Masseneinkommen so erhöht, dass weniger exportiert und/oder mehr importiert wird. Dazu wäre eine neue Tarifauseinandersetzung zwischen einer Einheitsgewerkschaft auf Bundesebene und dem Staat erforderlich um zu verhindern, dass die Masseneinkommen unter dem volkswirtschaftlich sinnvollen Maß zurückbleiben.

Neue Problemlagen erfordern daher die Ausweitung des Zielkatalogs:

5. Fiskalisches Gleichgewicht: Bei voller Ausnutzung unserer Produktionspotentiale z.B. der Care-Arbeit könnte das Bruttosozialprodukt (BSP) so gesteigert werden, dass sowohl bei der Schuldenstandsquote als auch bei der Defizitquote große zusätzliche Finanzierungsspielräume entstehen.

6. Demografisches Gleichgewicht: Kinder werden „de Leute“ eben nicht immer haben! Über 30 % der Frauen bleiben heute kinderlos. Wenn wir nicht bereit sind, durch eine bevölkerungsbewusste Familienpolitik für den Erhalt unserer Gesellschaft selbst zu sorgen, müssen wir durch Zuwanderung ausgleichen. Dazu müssten wir aber einwanderungsfreundlicher werden.

7. Ökologisches Gleichgewicht, insbesondere Umweltgestaltung: Die Katastrophe im Ahrtal hat gezeigt, was hier noch notwendig ist.

8. Klimaneutralität: Unsere Produktionsprozesse, unser Verkehrswesen, unsere Wohnungen, u. a. erfordern die Umstellung auf Klimaneutralität.

 

III. Arbeitsgesellschaft oderTätigkeitsgesellschaft

Auf dem Soziologentag 1982 hatten Claus Offe, Ralf Dahrendorf u. a. das Ende der Arbeitsgesellschaft ausgerufen, nachdem Hannah Arendt bereits Mitte der 50er Jahre verkündet hatte, das Schlimmste, was der Arbeitsgesellschaft passieren könne, sei, dass ihr die Arbeit ausgehe. Übersehen hatte man dabei die eigentliche Pointe: „Das Schlimmste sei, dass es sich dabei weiterhin um eine Arbeitsgesellschaft handelt, der die Arbeit ausgehe (unabhängig davon, ob ihr die Arbeit wirklich ausgeht): Denn es ist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und diese Gesellschaft kennt kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um derentwillen die Befreiung sich lohnen würde“. (Heiner Ludwig, Die käufliche Arbeit, die kirchliche Sozialtradition und die Erneuerung der Arbeitsgesellschaft, in: Wolfgang Thierse, Heiner Ludwig: Arbeit ist keine Ware! Herder 2009)

Im Vorwort ihres Buches haben sie das hier angedeutete Grundproblem beschrieben: „Das Normalarbeitsverhältnis hat zum ersten Mal in der Geschichte dazu geführt, dass Menschen aufgrund ihrer Arbeit (und nicht aufgrund von Eigentum) auch in Situationen von Nichtarbeit (Krankheit, Alter, Unfall, Arbeitslosigkeit) gesichert sind. Worin besteht die Erwartungssicherheit und die Legitimation, dass allein dieses komplizierte Geflecht stabil ersetzt werden kann und ersetzt werden darf? Wie demokratiefähig oder demokratiegefährdend sind z. B. Vorstellungen eines Grundeinkommens ohne Arbeit – also gesellschaftliche Integration und Inklusion nicht durch, sondern durch den Abschied von der Erwerbsarbeit? Und kann dann die verbleibende notwendige Erwerbsarbeit ruhig zur Ware werden?“

Für die uns hier zentral interessierende Frage nach dem Charakter der Care-Arbeit ist der ebenfalls dort zitierte Einwand aus der Frauenperspektive interessant: „Die skeptischere Frauenperspektive zeigt unser Problem deutlicher und klarer, vor allem durch die Erfahrung, dass just in dem Augenblick, da Frauen nach diesem Zauberstab greifen…der Wert und die Bedeutung von Erwerbsarbeit demontiert wird und diese entweder dadurch als Verstärker der Krise der Arbeitsgesellschaft gesehen werden, oder – als auf die nachindustrielle Gesellschaft besser vorbereitet – zu „Lebensunternehmerinnen“ hochstilisiert werden. Dieses Bild der Lebensunternehmerin ist schon gezeichnet, doch auf den Zusammenhang zwischen Arbeit und Einkommen geht man gar nicht erst ein.“ Wir sollten angesichts der wachsenden Bedeutung der Erwerbsarbeitsgesellschaft mit der höchsten Beschäftigungsquote aller Zeiten, mit dem Mangel an Arbeitskräften im Bereich der CareArbeit, des Handwerks und der Industrie, bei fehlenden Arbeitskräften im Bereich der Kinderbetreuung, der Schulen und in der Pflege nicht davon abbringen lassen, das Normalarbeitsverhältnis für alle zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Am Anfang von Erwerbsarbeit gibt es Erosionsprozesse durch überhandnehmende un- oder unterbezahlte Praktika, zeitliche Befristungen und Leiharbeit, immer häufiger wird über Wehrpflicht und Soziale Jahre für ganze Jahrgänge geredet, am Ende durch vorzeitige Verrentungen parallel zu weiter bestehender Erwerbsarbeit. Ausgeweitet werden muss das Normalarbeitsverhältnis durch neue Arbeitsverhältnisse im Bereich der bisher unbezahlten Familienarbeit durch Erziehungs-, Bildungs- und Pflegeeinkommen. Zusätzlich auch in Frauen- und Männerhäusern, Familien- und Betriebshilfe. Und das Ganze erfordert in Zukunft ein einheitliches, für alle geltendes Arbeits- und/oder Dienst- recht.

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