von Hans Ludwig in der fh 1/24 und fh 2/24
Was sind die aktuellen Probleme und Herausforderungen, auf die eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung Antwort geben muss? Eine auch volkswirtschaftlich mögliche und gesellschaftlich sinnvolle Lösung wäre die Bezahlung der CareArbeit:
I. Krisenerscheinungen:
Um die Jahreswende 2023/24 häufen sich die Krisenmeldungen über die wirtschaftliche und soziale Ordnungs- und Finanzpolitik. Die Politik und das Reagieren der Ampelkoalition um das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Einhaltung der Schuldenbremse zeigten wenig Einigkeit und Bereitschaft, die richtigen Konsequenzen zu ziehen.
- Neben der Zunahme der Rechtspartei AFD bereiten sich zwei neue Parteien auf ihre Gründung vor: Sahra Wagenknecht und Hans-Georg Maaßen, der frühere Präsident des Verfassungsschutzes versuchen mit nicht geringen Erfolgsaussichten am rechten und linken Rand unseres Volksparteienspektrums Einfluss zu gewinnen. Diese Zersplitterung des Parteienspektrums erinnert an die Weimarer Republik.
- Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem Jahresgutachten auf das demografische Problem aufmerksam gemacht, das die Zukunft unserer sozialen Sicherung in Frage stellt.
- Die neueste PISA-Studie hat die deutschen Schüler im internationalen Vergleich so schlecht wie nie zuvor verortet. Hauptursache ist der Ausfall von Unterrichtsstunden aufgrund des Lehrermangels und die nicht gelingende Integration der Kinder mit Migrationshintergrund.
- Aber auch schon vorher reichten die Betreuenden in KITAS und Kindergärten nicht aus. Es fehlen 500.000 Kitaplätze.
- Handwerk und Industrie klagen darüber, dass sie keine Auszubildenden finden. Viele Ausbildungsstellen bleiben unbesetzt, mit verheerenden Wirkungen auf das künftige Angebot an Facharbeitern.
- Der deutschen Wirtschaft entgehen jetzt bereits riesige Wachstumspotentiale, weil zu wenig Fachkräfte vorhanden sind.
- Katastrophal sind inzwischen die Zustände in unseren Pflegeeinrichtungen. Es fehlen Plätze in der stationären Pflege. Immer mehr Einrichtungen müssen teilweise oder ganz schließen, weil Personal fehlt.
- Wer mit chronisch kranken Menschen zu tun hat, wundert sich, dass Apotheken nicht mehr in der Lage sind, gängige Medikamente vorrätig zu halten.
- Wer umzieht, wird feststellen, dass es in Deutschland fast unmöglich ist, als Neubürger einen Termin bei Fachärzten zu bekommen.
- Die niedergelassenen Ärzte haben in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr „gestreikt“. Gründe: Fehlendes Personal, zu niedrige Vergütungen.
- Viele Krankenhäuser stehen vor der Insolvenz
- Die Politik nimmt die Probleme nicht wirklich wahr. Auf die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass der Haushalt für 2024 verfassungswidrig sei, reagierten fast alle Parteien reflexartig mit der Forderung, dann müsse an der Kindergrundsicherung oder am Familiengeld gestrichen werden.
- Als das Bundessozialgericht urteilte, dass Ärzte im Bereitschaftsdienst nicht als Selbständige oder Freiberufler, sondern als normale Arbeitnehmer Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung zu leisten hätten, kam es zu einer bundesweiten Verweigerung, unter diesen Bedingungen zu arbeiten.
- Dieselben Probleme bezüglich Steuer- und Sozialversicherungspflicht gab es vor einigen Jahren, als dasselbe Gericht über die Bezahlung ausländischer Pflegekräfte in privaten Haushalten ähnlich urteilte.
Es scheint sinnvoll und notwendig, die Ursachen für diese Krisen tiefer zu ergründen und in eine neue programmatische Diskussion unseres Systems einzusteigen, die sich allerdings auch der „faulen Kompromisse“ der Vergangenheit annehmen muss.
II. „Sozial temperierter Kapitalismus“ oder doch Soziale Marktwirtschaft
Immer wenn es um das Soziale ging, wurde die idealtypische Konzeption der sozialen Marktwirtschaft verraten. Als Prof. Schreiber 1957 die Drei-Generationen-Solidarität in das System der dynamischen Rente einführen wollte, hat Konrad Adenauer das mit Blick auf das Wählerpotential der älteren Bevölkerung abgelehnt und sich von Kardinal Frings, dem damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, gerne unterstützen lassen. Aus diesem Konflikt stammt der Adenauer zugeschriebene Satz: „Kinder kriejen de Leute immer!“
Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang das 1967 verabschiedete „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“, mit dem erstmalig eine Globalsteuerung der vier wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziele (Magisches Viereck) beschlossen wurde.
1. Das eindeutige Ziel Vollbeschäftigung wurde durch die schwammige Formulierung „hoher Beschäftigungsstand“ auf das bis dahin Erreichte reduziert. Insbesondere die nicht in die Erwerbsarbeit integrierte Care-Arbeit blieb wieder außen vor.
2. Die Geldwertstabilität wurde in der Folge mit 2 % tolerierbarer Inflation, bis zu der die Notenbank nicht tätig wird, relativiert.
3. Mit dem Aufgeben des Zieles der Vollbeschäftigung entsteht die Notwendigkeit, ständig angemessenes Wirtschaftswachstum zu generieren. Wäre Vollbeschäftigung erreicht, kann es kein reales Wachstum mehr geben, dann wäre das wirtschaftspolitische Ziel Wachstum irrelevant.
4. Am meisten Probleme verursacht das Ziel Außenwirtschaftliches Gleichgewicht.
Die Bundesrepublik als chronisches Überschussland verschenkt bis zu 10 % ihres Sozialproduktes an das Ausland, weil sie mehr Güter und Dienste ans Ausland liefert (Exporte), als es vom Ausland anzunehmen bereit ist (Importe). Diese Politik wird von den Fachökonomen als „Beggar thy neighbour policy“ bezeichnet, also als eine Politik, die die Nachbarn zu Bettlern macht. Offensichtlich wird das chronische Missachten des außenwirtschaftlichen Gleichgewichtes nicht als Problem gesehen, einige sehen darin sogar ein besonders erfolgreiches Wirtschaften. Das Problem kann man lösen, indem man die inländischen Masseneinkommen so erhöht, dass weniger exportiert und/oder mehr importiert wird. Dazu wäre eine neue Tarifauseinandersetzung zwischen einer Einheitsgewerkschaft auf Bundesebene und dem Staat erforderlich um zu verhindern, dass die Masseneinkommen unter dem volkswirtschaftlich sinnvollen Maß zurückbleiben.
Neue Problemlagen erfordern daher die Ausweitung des Zielkatalogs:
5. Fiskalisches Gleichgewicht: Bei voller Ausnutzung unserer Produktionspotentiale z.B. der Care-Arbeit könnte das Bruttosozialprodukt (BSP) so gesteigert werden, dass sowohl bei der Schuldenstandsquote als auch bei der Defizitquote große zusätzliche Finanzierungsspielräume entstehen.
6. Demografisches Gleichgewicht: Kinder werden „de Leute“ eben nicht immer haben! Über 30 % der Frauen bleiben heute kinderlos. Wenn wir nicht bereit sind, durch eine bevölkerungsbewusste Familienpolitik für den Erhalt unserer Gesellschaft selbst zu sorgen, müssen wir durch Zuwanderung ausgleichen. Dazu müssten wir aber einwanderungsfreundlicher werden.
7. Ökologisches Gleichgewicht, insbesondere Umweltgestaltung: Die Katastrophe im Ahrtal hat gezeigt, was hier noch notwendig ist.
8. Klimaneutralität: Unsere Produktionsprozesse, unser Verkehrswesen, unsere Wohnungen, u. a. erfordern die Umstellung auf Klimaneutralität.
III. Arbeitsgesellschaft oderTätigkeitsgesellschaft
Auf dem Soziologentag 1982 hatten Claus Offe, Ralf Dahrendorf u. a. das Ende der Arbeitsgesellschaft ausgerufen, nachdem Hannah Arendt bereits Mitte der 50er Jahre verkündet hatte, das Schlimmste, was der Arbeitsgesellschaft passieren könne, sei, dass ihr die Arbeit ausgehe. Übersehen hatte man dabei die eigentliche Pointe: „Das Schlimmste sei, dass es sich dabei weiterhin um eine Arbeitsgesellschaft handelt, der die Arbeit ausgehe (unabhängig davon, ob ihr die Arbeit wirklich ausgeht): Denn es ist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und diese Gesellschaft kennt kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um derentwillen die Befreiung sich lohnen würde“. (Heiner Ludwig, Die käufliche Arbeit, die kirchliche Sozialtradition und die Erneuerung der Arbeitsgesellschaft, in: Wolfgang Thierse, Heiner Ludwig: Arbeit ist keine Ware! Herder 2009)
Im Vorwort ihres Buches haben sie das hier angedeutete Grundproblem beschrieben: „Das Normalarbeitsverhältnis hat zum ersten Mal in der Geschichte dazu geführt, dass Menschen aufgrund ihrer Arbeit (und nicht aufgrund von Eigentum) auch in Situationen von Nichtarbeit (Krankheit, Alter, Unfall, Arbeitslosigkeit) gesichert sind. Worin besteht die Erwartungssicherheit und die Legitimation, dass allein dieses komplizierte Geflecht stabil ersetzt werden kann und ersetzt werden darf? Wie demokratiefähig oder demokratiegefährdend sind z. B. Vorstellungen eines Grundeinkommens ohne Arbeit – also gesellschaftliche Integration und Inklusion nicht durch, sondern durch den Abschied von der Erwerbsarbeit? Und kann dann die verbleibende notwendige Erwerbsarbeit ruhig zur Ware werden?“
Für die uns hier zentral interessierende Frage nach dem Charakter der Care-Arbeit ist der ebenfalls dort zitierte Einwand aus der Frauenperspektive interessant: „Die skeptischere Frauenperspektive zeigt unser Problem deutlicher und klarer, vor allem durch die Erfahrung, dass just in dem Augenblick, da Frauen nach diesem Zauberstab greifen…der Wert und die Bedeutung von Erwerbsarbeit demontiert wird und diese entweder dadurch als Verstärker der Krise der Arbeitsgesellschaft gesehen werden, oder – als auf die nachindustrielle Gesellschaft besser vorbereitet – zu „Lebensunternehmerinnen“ hochstilisiert werden. Dieses Bild der Lebensunternehmerin ist schon gezeichnet, doch auf den Zusammenhang zwischen Arbeit und Einkommen geht man gar nicht erst ein.“ Wir sollten angesichts der wachsenden Bedeutung der Erwerbsarbeitsgesellschaft mit der höchsten Beschäftigungsquote aller Zeiten, mit dem Mangel an Arbeitskräften im Bereich der CareArbeit, des Handwerks und der Industrie, bei fehlenden Arbeitskräften im Bereich der Kinderbetreuung, der Schulen und in der Pflege nicht davon abbringen lassen, das Normalarbeitsverhältnis für alle zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Am Anfang von Erwerbsarbeit gibt es Erosionsprozesse durch überhandnehmende un- oder unterbezahlte Praktika, zeitliche Befristungen und Leiharbeit, immer häufiger wird über Wehrpflicht und Soziale Jahre für ganze Jahrgänge geredet, am Ende durch vorzeitige Verrentungen parallel zu weiter bestehender Erwerbsarbeit. Ausgeweitet werden muss das Normalarbeitsverhältnis durch neue Arbeitsverhältnisse im Bereich der bisher unbezahlten Familienarbeit durch Erziehungs-, Bildungs- und Pflegeeinkommen. Zusätzlich auch in Frauen- und Männerhäusern, Familien- und Betriebshilfe. Und das Ganze erfordert in Zukunft ein einheitliches, für alle geltendes Arbeits- und/oder Dienstrecht.
IV. Die Grundelemente einer Sozialreformstrategie, die die CareArbeit integriert:
1. Verlagerung der familienpolitischen Leistungen in die Versichertengemeinschaft
Wir brauchen eine Verstetigung und auf Dauer sichere Konzeption der Familienpolitik, die nicht bei jedem Regierungswechsel ideologisch hinterfragt wird. Junge Menschen, die Familie mit Kindern gründen und sich eine eigene berufliche Existenz aufbauen und ihre Wohnsituation auf Dauer sichern wollen, brauchen verlässliche Strukturen, in die hinein sie ja lebenslang investieren. Für diese Aufgabe bietet sich die Versichertengemeinschaft, die ein elementares Interessedaran hat, ihre umlagefinanzierten Leistungen durch eine verlässliche Bevölkerungsstruktur garantieren zu können. Max Wingen nannte das eine „bevölkerungsbewusste Familienpolitik.
2. Einführung der Bürgerversicherung
Es geht um eine Umstellung der sozialen Sicherung weg von ihrer Familienbezogenheit hin zu einer individuell auf die einzelnen Erwerbstätigen und ihre Arbeit gründende soziale Sicherung. Gerecht ist also nicht mehr der Familienlohn, sondern der jedem und jeder Erwerbstätigen entstehende Anspruch auf ein existenzsicherndes Einkommen durch Arbeit, und dazu eben auch die gesellschaftliche Anerkennung der CareArbeit in den privaten Familienhaushalten.
Maßgebend ist dann die Verpflichtung zur Beitragsleistung aller Einwohner bis zur Beitragsbemessunsgrenze. (Zur Zeit in der Kranken- und Pflegeversicherung bei € 62.100 jährlich. In der Renten- und Arbeitslosenversicherung sind es jährlich € 90.600 im Westen und € 89.400 im Osten).
- Beamte erhalten dann eine gesetzliche Rente, die ihren Besitzstand absichert, dafür zahlen die jeweils aktiv tätigen Beamten Beiträge, die zur Finanzierung dieser Renten dienen.
- Dasselbe gilt für Selbständige, Freiberufler, etc. wobei für die Vergangenheit durchschnittliche Einkommen zugrundegelegt werden, also z.B. € 4.000,- pro Monat.
- Erziehende und Pflegende in den privaten Haushalten können optieren, entweder erhalten sie Renten in Höhe der bisherigen Hinterbliebenenrente, oder sie rekonstruieren ihre Erwerbsbiografie neu und machen Zeiten eigener außerhäuslicher Arbeit incl. der evtl. ausgezahlten Arbeitnehmerbeiträge in der Rentenversicherung, Zeiten der Kindererziehung, der Pflege von nahen Angehörigen geltend. Zeiten in einer Ehe ohne entsprechende gesellschaftliche Arbeit werden dann hälftig zwischen den Ehegatten geteilt, wie es bisher schon bei Ehescheidungen und dem seit 2002 geltenden Rentensplitting geschieht.
3. Unternehmensverfassungen für alle produzierende Unternehmen
Es gilt, vier Unternehmenstypen zu unterscheiden:
– Die privaten Haushalte, in denen 2/3 unserer produktiven Arbeit, d.h. unseres Wohlstandes, geleistet werden (Zeitverwendungsstudien des Stat. Bundesamtes) und die bisher auch von den Wirtschaftswissenschaften nur als Stätten des Konsums betrachtet werden. Sie müssen auch als Stätten der Produktion unseres Wohlstandes in die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einbezogen werden. Diese müssen sich zwar – und darin unterscheiden sie sich von den drei anderen Typen – im zeitlichen Ablauf mit der Entwicklung der Familien anpassen, vielleicht sogar verschwinden, aber das ändert nichts an ihrer zentralen Bedeutung für die volkswirtschaftliche Produktion. Sofern hier Arbeiten von Menschen im erwerbsfähigen Alter verrichtet werden, die deshalb und insoweit kein außerhäusliches Erwerbseinkommen erzielen (Erziehung, Pflege, Bildung, Gesundheit) müssen sie vergleichbares Bruttoeinkommen erzielen. Zur Würde dieser Arbeit gehört, dass sie mit ihren Ergebnissen auch zur staatlichen Finanzierung und zur sozialen Sicherung insgesamt beitragen kann. Das jüngste Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur rechtlichen Bewertung der Arbeit in den Haushalten durch ausländische Pflegekräfte hat hier endlich die notwendige Klarheit geschaffen.
– Die privaten Träger von Einrichtungen, die gesellschaftlich finanzierte Dienste erbringen und die sich deshalb nicht am Markte orientieren müssen (Krankenhäuser, Senioren-Residenzen und Altenheime, Pflegeeinrichtungen, auch Schulen, Kitas und Kindergärten, kommunale Eigenbetriebe). In diesen ständig wachsenden Einrichtungen muss normales deutsches Arbeitsrecht gelten. Verbindliche Tarifverträge, Betriebsverfassung und Mitwirkungsrechte der Bewohner dieser Einrichtungen sind Voraussetzung für ihre staatliche Finanzierung. Damit Bewohner und sonstige Betroffene sich bei rechtlichen Konflikten besser wehren können, müssen die bestehenden freiwilligen Schlichtungsverfahren verbindlich gemacht werden.
– Die Marktunternehmen, die nur noch als juristische Personen am Markt agieren dürfen. Damit ist ihre generationenübergreifende Existenz gesichert, ihre Finanzierung durch Zugang zum Eigenkapitalmarkt auch für die Arbeitnehmer möglich, womit viele Probleme, die zu ihrem Verschwinden (z.B. durch Verkauf an Konkurrenten, insbesondere, wenn die Nachfolgefrage in der Familie scheitert) führen, wegfallen. Entscheidend ist diese Regelung dafür, dass endlich alle an der Finanzierung der Unternehmen beteiligt werden können und damit die eigentliche Ursache für den bestehenden Kapitalismus und den Ausschluss der Arbeitnehmer vom haftenden Eigenkapital ihrer Unternehmen beseitigt wird. Mit dieser Möglichkeit wäre auch die notwendige Erhöhung der Masseneinkommen gegen die Exportüberschüsse möglich, weil mittelständische Familienbetriebe diese Einkommen nicht auszahlen müssten, sondern zur Verbesserung der Eigenfinanzierung verwenden könnten.
– Staatliche und kommunale Unternehmen: Bleibt noch über die eigentlichen öffentlichen Betriebe neu nachzudenken. Die Corona-Krise hat offenbart, wie sehr bei ihnen noch Nachholbedarf bei ihrer Modernisierung und Leistungsfähigkeit besteht. Wenn wir insgesamt für unsere grundlegende Sozialreformstrategie die Bürgerversicherung brauchen und entscheidende Bereiche der sozialen Vorsorge (wie die gesamte Familienförderung) von der Politik weg in die Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger überführen, dann wird klar, dass auch die Beamten in Zukunft ihre Einkommen und Versorgung über Tarifverträge absichern und ihre Versorgung über die gesetzliche Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeits- und Familiensicherung organisieren müssen. Es wird in einer „klassenfreien Gesellschaft“ nur noch ein Arbeits- und Dienstrecht geben dürfen, über das auch flexiblere Wechselmöglichkeiten zwischen den vier Bereichen möglich gemacht werden können.
Dies alles vorausgeschickt lege ich nun ein Finanzierungs- und Rechenmodell für eine solche Sozialreformstrategie vor. Die Zahlen sind orientiert an den Verhältnissen in der Bundesrepublik, teilweise etwas veraltet und müssten in der Diskussion noch korrigiert werden, was aber in ihren Auswirkungen kaum ins Gewicht fallen dürfte.
V. Modellrechnung für ein Erziehungs-, Pflege-, Gesundheits- und Bildungseinkommen
Grundannahmen:
1. Die wöchentliche Arbeitszeit beträgt 40 Stunden, d. h. im Jahr 1650 Stunden.
2. 50 % der Jahrgänge beginnen mit 16 Jahren eine Lehre im dualen System und gelten damit als erwerbstätig. Weitere 50 % beginnen mit 18 Jahren nach Abitur eine wissenschaftliche Bildung und gelten ab da als erwerbstätig. Der Einfachheit halber gehen wir im Folgenden von einem Beginn der Erwerbstätigkeit mit 17 Jahren aus. Ende der Erwerbstätigkeit ist für alle verbindlich mit 65 Jahren. Bei einem großen Angebot von neuen Arbeitsgelegenheiten im Care-Bereich kann davon ausgegangen werden, dass bis 65 Jahre gearbeitet wird.
3. Ausgangslage ist die Bevölkerung der Bundesrepublik, hier anhand der Statistik von 2020:
D.h. es gibt Kindergeld für 13,5 Mio Kinder von € 500,- pro Monat, € 6.000,- pro Jahr = € 81 Mrd.
Es gibt 51 Millionen Erwerbspersonen, davon sind je 1 Mio erwerbsunfähig bzw. freiwillig geringer beschäftigt, so dass Grundlage der Rechnung 49 Millionen Erwerbstätige sind. 18,67 % sind Altersruhegeldempfänger, die im Rahmen der Bürgerversicherung auch alle einheitlich als Rentnerinnen und Rentner geführt werden.
4. Angenommen ist, dass bisher 40 % der Erwerbspersonen nicht erwerbstätig sind, weil sie unbezahlte Familienarbeit leisten, offiziell arbeitslos sind, unbezahlt studieren oder aus anderen Gründen nicht zu den Erwerbstätigen zählen. Diese 40 % bilden das Potential, aus dem die zusätzlichen Arbeitsplätze kommen.
5. Durch die bezahlte Familienarbeit werden 14 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, weitere 7 Millionen werden durch die wachsende Nachfrage auf dem bisherigen Arbeitsmarkt neu generiert. Insgesamt werden also 21 Millionen Arbeitsplätze für Vollbeschäftigung sorgen.
6. Das Bruttoeinkommen aller Arbeitsplätze ist durchschnittlich mit € 4.000 angenommen. Die bisherigen Arbeitgeberbeiträge werden in einer klassenfreien Gesellschaft den Bruttoeinkommen zugerechnet und daraus bezahlt.
7. Die bisherigen Sozialversicherungsbeiträge von insgesamt 39,20 % können um 40% gesenkt werden, weil 40 % zusätzlich Beschäftigte nun Beiträge zahlen, aber keine zusätzlichen Aufwendungen verursachen, denn sie sind bisher schon über Familienversicherung, Arbeitslosenversicherung und Beihilfen miterfasst. Zusätzliche Absenkungen sind möglich, weil
- In den privaten Haushalten nun Kapazitäten für hauswirtschaftliche Dienstleistungen vorhanden sind, die die Krankenkasse entlasten. Auch das Problem, dass Krankenhäuser ihre Patienten länger als nötig aufnehmen müssen, weil zuhause keine Betreuung vorhanden ist, kann so entschärft werden. Viele Reha-Maßnahmen können auch zuhause kostengünstiger und menschenfreundlicher organisiert werden.
- In der Pflegeversicherung übernimmt die Bundesagentur die Personalkosten in der häuslichen Pflege und zwar zu regulären tariflichen Bedingungen mit € 4.000,- für 2 Mio angenommene Arbeitsplätze. Bei der Pflegeversicherung entfällt für diese das Pflegegeld für die häusliche Pflege. Da hier in der überwiegenden Anzahl der Fälle die Arbeit mit der Übernahme von Kost und Logis verbunden ist, werden die hierfür üblichen steuerlich zulässigen Pauschalen beim Lohn berücksichtigt. Insoweit beteiligen sich also die Haushalte bei der Finanzierung dieser Einkommen.
- Bei der stationären Pflege werden die Investitionskosten vom Staat bzw. den Kommunen übernommen. Die Pflegeversicherung übernimmt die pflegebedingten Aufwendungen und die Ausbildungskosten, so dass die Eigenbeteiligung nur noch die Kosten für Unterkunft und Pflege von € 912,- Bundesdurchschnitt trägt.
- In der RV entfallen die Witwen- und Waisenrenten. Die bisher nicht erwerbstätigen Frauen und Mütter erhalten nachträglich ein Optionsrecht: Sie können ihre bisherige Witwenrente behalten, oder sie können nachträglich eine Erwerbsbiografie darstellen, mit der sie eine eigenständige durchschnittliche Altersrente erhalten. In diese Erwerbsbiografie gehen alle eigenen Rentenbeiträge ein. Außerdem Erziehungszeiten für Kindererziehung bis zum 15. Lebensjahr des jüngsten Kindes sowie Pflegezeiten für nahe Angehörige. Außerdem werden Zeiten, in denen sie nur für den eigenen Ehemann gearbeitet hat, hälftig zwischen den Eheleuten geteilt.
- Bei der bisherigen Arbeitslosenversicherung wird unterstellt, dass diese bei realer Vollbeschäftigung eigentlich entfällt. Es verbleibt allenfalls die Leistung bei friktioneller (freiwilliger) Arbeitslosigkeit. Hier muss aber angemerkt werden, dass eine solche eigentlich nicht versicherbar ist. Außerdem muss die Bundesagentur auch bei der Neuschaffung eines ganzen Arbeitsfeldes in den privaten Familienhaushalten sicherlich mit Maßnahmen der Umschulung und anderen sozialen Ausgleichs- und Eingliederungsmaßnahmen zur Hilfe bereit sein.
Hier haben wir nur die Senkung um 40 % berücksichtigt, es verbleiben also insgesamt 23,52 % von den Beiträgen für die Finanzierung der neuen Bundesagentur für Arbeit und Familien. Kann mehr gesenkt werden, erhöht sich der Finanzierungsspielraum bzw. können die Beiträge für alle weiter gesenkt werden.
Auszahlungen der um neue Aufgaben erweiterten Bundesagentur für Arbeit und Familien lt. Tabelle 2 also insgesamt 706,746 Mrd. €, wenn wir die Sachleistungen der Haushalte für Unterkunft und Verpflegung von den Auszahlungen abziehen.
Einzahlungen bzw. Finanzierung dieser Auszahlungen erfolgen lt. Tabelle 3 durch die Beiträge der Versichertengemeinschaft von 553 Mrd. € sowie die Verrechnung mit bisherigen Auszahlungen im Sozialbudget von insgesamt 108,200 Mrd. €. Außerdem sind staatliche und kommunale Kinderleistungen im Sozialbudget enthalten bei Wohngeld, Sozialhilfe, Beihilfe von insgesamt € 345 Mrd.
Zu diskutieren bleibt, ob die Sachleistungen der privaten Haushalte von insgesamt € 63.772.800.000 für Unterkunft und Verpflegung zum Teil herangezogen werden können. All dies zusammengefasst, evtl. unter Hinzuziehung der zusätzlichen Einkommenssteuern, ist das Vorhaben voll finanzierbar, ohne den Staatshaushalt zu belasten.
VI. Konsequenzen für die Schuldenbremse
Im Hinblick auf die Schuldenbremse ist ein wichtiger Vorteil dieser neuen Finanzierung, dass den staatlichen Haushalten ein wesentlich höherer Spielraum für neue Investitionen vermittelt wird. Nehmen wir als Beispiel die sogenannten Konvergenzkriterien der Maastrichtverträge:
1. Der Schuldenstand, gemessen am Anteil der Schuldensumme am BSP, darf nicht über 60 % steigen.
2. Die Defizitquote, gemessen am Anteil der Neuverschuldung am BSP darf nicht über 3 % steigen.
Steigt nun das BSP durch die zusätzlichen Einkommen um € 1.101 Mrd., erhöht sich der Finanzierungsspielraum um ca. € 660 Mrd. Werden die Staatsausgaben durch Einsparungen bei den bisherigen Leistungen für Kinder und Familien geringer, verringert sich die Defizitquote. Auch dadurch erhält der Staat mehr Spielraum.
Die Modellrechnung zeigt, dass eine gleichwertige Bruttobezahlung der Familienarbeit ohne zusätzliche Staatsverschuldung möglich ist. Jetzt kommt es darauf an, dass sie auch gewollt wird.