aus der fh 1/24
In den beiden ersten Ausgaben 2024 der „Familienarbeit heute“ bringen wir die Erfahrungsberichte zweier Kita-Erzieherinnen aus ihrem Alltag.
Erzieherin Anja (*Name geändert) ist 34 Jahre alt und arbeitet im U3-Bereich in einer Kita in Nordrhein-Westfalen. Sie schreibt:
„Ich wache früh auf. Eigentlich immer vor dem Wecker. Den brauche ich schon lange nicht mehr. Und sofort spüre ich diese Unruhe: erst mal sortieren! Ah: Es ist Mittwoch und ,eigentlich‘ ist alles gut. Kein Grund zur Unruhe. Mein Privatleben ist stabil und ausgeglichen. Ich bin gerne unterwegs mit Freunden. Eigentlich! Und doch ist da dieses Gefühl im Magen. Und da kommen auch schon die Gedanken…
Ich denke nach über meinen Job in der U3-Gruppe im Kindergarten: Melanie, meine Kollegin, war gestern nicht da. Ob sie heute kommt? Ben, der Kleine aus meiner U3- Gruppe, bleibt seit drei Wochen den ganzen Tag. Die Eingewöhnung ist abgeschlossen. Er weint viel und sitzt oft eine halbe Stunde auf meinem Schoß, bevor er einen kleinen Schritt alleine machen kann. Ohne Melanie kann ich ihn nicht auf den Arm nehmen, hoffentlich bin ich überhaupt in seiner Gruppe. Solche Gedanken habe ich sehr oft am Morgen – direkt nach dem Aufwachen. Den Kaffee trinke ich nebenbei, essen mag ich nichts.
Jetzt ist Melanie wirklich die ganze Woche krank, sie hat eben in der Kita angerufen. Jedesmal wenn das Telefon vor 9 Uhr klingelt durchfährt mich ein Schauer: Fällt vielleicht noch jemand aus? Aber es bringt alles nichts – ab, da durch jetzt!
Niki, unser Praktikant, ist heute bei mir. Das ist gut. Niki ist nett. Nur kleben dann alle Kinder an mir, weil sie Niki noch nicht so gut kennen.
Aber wie viele Kinder passen auf meinen Schoß? Wenn der besetzt ist, muss Ben warten und alleine weinen. Und wenn Ben auf meinem Schoß sitzt, müssen die anderen warten. Ich habe mal eine Trage für den Rücken mitgebracht, damit ich die Kleinen tragen kann und für die anderen auch noch da sein kann. ‚Das geht nicht‘ sagte mir die Leitung. ‚Die Kinder sollen sich daran gewöhnen, dass sie hier nicht den Anspruch auf eine 1:1 Betreuung haben.‘ Je resoluter ich da sei, umso schneller habe sich das Kind daran gewöhnt. Das kann ich nicht und muss es doch machen. Kleiner Ben, bitte begreife schnell, dass hier keiner auf deine Bedürfnisse eingehen kann! Ben ist stark und ausdauernd. Ich befürchte, es wird noch lange dauern, bis er aufgibt. Dabei möchte ich ihn unterstützen und bestärken, dass Kraft und Ausdauer gut sind und er sie unbedingt kultivieren soll. Im Leben würde es ihn stärken. Bens Mama hat mir in der Eingewöhnung erzählt, dass Ben immer an ihrer Nagelhaut spielt, wenn sie ihn in den Schlaf begleitet. Wenn ich die Möglichkeit habe, bleibe ich an seinem Bettchen und er sucht meine Nagelhaut. Er atmet dann ruhiger, das spüre ich genau. Doch Melanie ist die ganze Woche nicht da und Marie, Milla, Sophie, Mira, Max, Noah, Emil, Henry und Theos Eltern haben uns auch erzählt, was ihre Kinder gerne haben, was ihnen hilft, sich zu regulieren, da sie es allein noch nicht können.
Wir haben es notiert, im Ordner ist es gut aufgehoben. Leisten können wir es nicht. Und den Eltern sagen, dass wir es nicht können, auch nicht.
Dann am Nachmittag kommen die Eltern. Für mich ein Gefühl der Erlösung, und gleichzeitig spüre ich erst jetzt die Müdigkeit in meinen Knochen. Natürlich fragen die Eltern, wie der Tag war und ich lüge sie an. ‚Gut war es! Ben hat mit Louis gespielt und wunderschöne Bilder gemalt. Mögen Sie einmal schauen, sie sind in seiner Box.‘ Schon immer habe ich es so gemacht: Das, was gut war am Tag, habe ich den Eltern erzählt. Mir war lange nicht klar, dass die Eltern das Recht haben, zu erfahren, wie oft ich am Tag über den Zustand ihres Kindes verzweifelt war. Wie oft ich beobachtet habe, dass es in Not ist und alleine da nicht rauskommt, ich die Verzweiflung und den Stress gefühlt habe und nichts machen konnte. Zum einen sind da noch so viele andere Kinder, das ganze Drumherum muss gewuppt werden. Und da gibt es auch noch mich mit meinen Bedürfnissen und Gefühlen. Diese transportiere ich direkt an das kleine Kind. Ungefiltert und oft mit einer großen Wucht. In einem Seminar habe ich den Spruch von Martin Buber gehört: ‚Ein Mensch wird am DU zum ICH‘. Was für ein DU bin ich für das Kind in diesem System? Seit ich mir diese Frage stelle, kann ich nicht mehr weiter machen wie bisher. Die Konsequenz nach langem hin und her, bedeutet für mich den Ausstieg aus meinem Beruf, den ich mit so großer Leidenschaft angetreten habe.
Mein Wunsch ist, dass Eltern Verantwortung übernehmen und auf einer guten Betreuung für ihr Kind bestehen. Meine Geschichte ist die Regel: Das weiß ich aus zahlreichen Gesprächen mit Kolleg:innen. Eltern haben eine große Macht. Wenn sie sich zusammentun würden, um für bessere Bedingungen in den Kitas und somit für das Wohl ihrer Kinder einzutreten, könnte sich etwas ändern. Wird immer weggesehen und ‚irgendwie geht es schon‘ gesagt, ändert sich mit Sicherheit nichts!“
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