Fremdbetreuung – Wissenswertes und Kritisches – Ausgabe 2007/1

Ein Beitrag von Beri Fahrbach-Gansky

Alles ist rührend um das Wohl der Familie besorgt: Krippen, Kindergärten, Horte, Ganztagesschulen, Tagesmütter, Mütter können, nein dürfen,
endlich "arbeiten", dürfen endlich Teil haben an Geld und Prestige, sozialer Absicherung, Unabhängigkeit, gesellschaftlichem Leben, usw. Wie kann man nur etwas gegen diese Vision haben??

Nun, mir scheint, es ist kein Nachfragen und Nachdenken darüber erwünscht, wie es den Babys und Kindern dabei geht. Genau das will ich in drei Abschnitten tun und damit das kritische Auge der Lesenden schärfen.

"Arbeitende Mütter – gute Mütter" – solche Schlagzeilen sind mit Sicherheit wenig hilfreich, solange lediglich Erwerbsarbeit gemeint ist. Tatsache ist, dass viele Faktoren entscheiden, welchen Einfluss die Fremdbetreuung auf ein Kind hat.

Erstens: Als ein entscheidender Faktor hat sich die Qualität der Fremdbetreuung erwiesen. Hier nur zwei Beispiele, was eine "high quality day care" (Fremdbetreuung hoher Qualität) auszeichnet1):
– Personalschlüssel nicht über 1:3-4 bei unter zweijährigen (also eine Erzieherin bzw. Tagesmutter auf 3-4 Kinder), und nicht über 1:4-6 bei zwei- und dreijährigen, nicht über 1:8-10 bei drei- bis fünfjährigen Kindern.
– Gruppengrößen von nicht mehr als 6-8 Kindern bei unter Zweijährigen, und nicht mehr als 12 bei zwei- bis dreijährigen, nicht mehr als 16 – 20 bei drei- bis fünfjährigen Kindern.

Werden die "high quality" Kriterien erfüllt, kann man davon ausgehen, dass die kognitive, intellektuelle und sprachliche Entwicklung nicht leidet1) 2). Ich kann nicht genug betonen, dass es bei diesen Qualitätskriterien nicht etwa um besondere Förderung geht, wie oft suggeriert wird, sondern einfach um eine möglichst normale Entwicklung wie in der Familie. Wichtig ist, dass das Kind zu der Betreuerin eine möglichst gute Bindung aufbauen kann3).

Zweitens: Ein weiterer entscheidender Punkt ist das Alter des Kindes beim Beginn der Fremdbetreuung und die dort verbrachte Zeitspanne.

Viele Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass fremdbetreute Kinder unter zwei Jahren bei emotionalen, sozialen und verhaltensbezogenen Fähigkeiten schlechter abschneiden als von der Mutter (d.h. der Hauptbezugsperson) betreute, verblüffenderweise unabhängig von der Art der Fremdbetreuung2) 4).

Zur Zeitspanne, die ein Kind in Fremdbetreuung verbringt, kann man grob sagen: Je länger, umso höher die Risiken. So konnten 43 Prozent der Kinder unter einem Jahr, die länger als 20 Stunden in der Woche in Fremdbetreuung verbrachten, keine sichere Bindung zur Mutter aufbauen1). Auch die Zahl der verhaltensauffälligen, aggressiven Kinder nimmt mit steigender Fremdbetreuungszeit zu: zum Beispiel bei Fünfjährigen: bei unter zehn Wochenstunden Fremdbetreuung waren zehn Prozent auffällig, bei über 45 Stunden gar 26 Prozent5).

Im Prinzip gilt dasselbe für Ganztagesschulen: je länger Kinder in "Massenkinderhaltung" verbringen, umso mehr Aggressionen und psychosomatische Probleme haben die Kinder6) 7).

Drittens: Von Bedeutung ist, wie die Zeit außerhalb der Fremdbetreuung gestaltet wird. Sie sollte beispielsweise bei Kindern unter drei Jahren einfühlsam und in positiver Atmosphäre ganz dem Kind gewidmet werden. Das kann viele Nachteile von Fremdbetreuung kompensieren – sagen viele Psychologen2) 3).

Viertens: Ein Kleinkind einfach bei einer ihm unbekannten Person in fremder Umgebung abzustellen, ist eine traumatische Erfahrung. Deshalb kommt einer langsamen Eingewöhnungszeit mit der Bezugsperson eine hohe Bedeutung zu3).

Fünftens: Natürlich spielen noch viele andere Faktoren eine Rolle. Eines sei noch erwähnt: Psychologen räumen ein, dass für schüchterne, ängstliche sowie reizempfindliche Kinder eine Krippe durchaus sehr ungünstig sein kann3).

Im ersten Teil meines Artikels habe ich versucht, einen kleinen Einblick zu geben, was die Wissenschaft zu bieten hat – durchaus Wichtiges für fremdbetreuungswillige Eltern. Hört sich das nicht ganz gut und "machbar" an? Im zweiten Teil greife ich nochmals einzelne Punkte kritisch auf.

Zu erstens. Wie steht es denn mit den Ansprüchen auf qualitativ hochwertige Fremdbetreuung, die eine gesunde und normale geistige Entwicklung garantieren sollen?
35-40 Prozent der Krippen (Kinder unter drei Jahren) und 12-21 Prozent der Tageseinrichtungen in den USA werden als die Entwicklung der Kinder beeinträchtigend eingestuft. Nur in 12-14 Prozent der Einrichtungen bekamen die Kinder die angemessene Förderung2). Wie sich das, was bei uns in Deutschland in großem Stil angeleiert wird, zu diesen dringend empfohlenen Mindeststandards verhält, würde alleine einen Artikel füllen. Nicht mal unsere Regelkindergärten entsprechen dem!! Sie haben schon zu große Gruppen. Ich möchte bezweifeln, dass den Psychologen klar ist, dass die Standards, die sie entwickeln, kaum interessieren. Es entscheiden finanzielle Aspekte.

Einen wunden Punkt möchte ich aus eigener Erfahrung anführen. Durch den häufigen Wechsel von Erzieherinnen einerseits und durch die Mobilität (Umzüge) anderseits bleibt eine möglichst intensive Bindung zur Betreuungsperson oft genug Wunschdenken.

Zu zweitens. Wie steht es mit der Dauer, die Kinder in Fremdbetreuung verbringen? Es dreht sich eine sehr machtvolle Spirale. Das beschreibt die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild: die Wertschätzung von Arbeit gegen Geld steigt und steigt, und alles was "das Wesen des Familienlebens ausmacht", wird immer mehr entwertet. Die Balance zwischen Firma und Familie wird nicht etwa selbstverständlich, sondern gelingt immer weniger Eltern. Das heißt, dass Eltern lieber Angebote zu überstunden annehmen als familienfreundliche Angebote (z.B. Teil-, Gleitzeit, usw.) – trotz protestierender Kinder, romantischer Familienideale, sicherer Arbeitsplätze. Die Zeit, die Kinder in Fremdbetreuung verbringen, richtet sich nicht nach wissenschaftlichen Empfehlungen, sondern danach, inwieweit Eltern es schaffen, sich ökonomischen Zwängen und dem Sog des Zeitgeistes zu entziehen.

Zu drittens. Wie steht es mit dem Bild der Mutter, die mit bester Laune (weil sie ja "arbeiten" darf) ihrem Nachwuchs einfühlsam ihre komplette "Freizeit" widmet?

Forscher stellen fest (man darf überrascht sein!):
– Auch daheim wartet Arbeit8). "Je mehr Zeit die erste Schicht (am Arbeitsplatz) beansprucht, desto gehetzter und schärfer rationalisiert fällt die zweite Schicht (zu Hause) aus", beobachtete Hochschild9), und: die Firma wird immer mehr zum Zuhause und zu Hause wartet nur noch
Arbeit.
– Oft bestimmen eher Gereiztheit, Ungeduld und Streit das kurze Familienleben – zum Schaden der Kinder (psychology today 3+4/2000).
– Viele Mütter sind erschöpft von der Erwerbstätigkeit und hängen ihr in Gedanken hinterher. Schlechte Voraussetzungen für eine feinfühlige Einstellung auf die Kinder9).
– "Je mehr ein Kind in nichtmütterlicher Betreuung verbringt, desto geringer scheint die Sensibilität der Mutter für die Gefühle und Stimmungen des Babys zu sein." (Ergebnis einer sehr aufwändigen Studie2)).

Einmal mehr entpuppen sich allgemeine Vorstellungen und Empfehlungen als Wunschdenken. Aber es kommt noch dicker: selbst sehr viele Mütter, die liebend gerne ihre "Freizeit" bestens gelaunt ihren Kindern widmen würden, können dies nicht: Sie schaffen im Schichtdienst (über die Hälfte der Erwerbstätigen in Deutschland10)) und sehen ihre Kinder zum Teil kaum! (Ganztagesschulen verschlechtern ironischerweise die Situation.) Hochschild beobachtet in diesen Familien ein "äußerst kompliziert verlaufendes Kinderbetreuungsfließband", auf dem die Kinder ständig von einer Betreuungsperson zur nächsten geschoben werden, und viele Schlüsselkinder, was ein dreimal so hohes Suchtrisiko bedeutet. Kinder schichtarbeitender Mütter sind die doppelten Verlierer.

Noch ein paar interessante Details:
– Es sei nicht verschwiegen, dass es tatsächlich Kinder gibt, die Vorteile von Fremdbetreuung schon im jüngsten Alter haben. Es sind Kinder aus sozialen Brennpunkten, aus zerrütteten, suchtkranken, gewalttätigen Familien – vorausgesetzt, sie erhalten hochqualifizierte Betreuung2)!
– Kinder in Krippen haben häufiger Infekte (von Durchfall bis Meningitis), doppelt so häufig Asthma und wegen der Lautstärke in dem Gruppenbetrieb oft schon Hörprobleme2).
– Fremdbetreute Jungen schneiden in Tests in sämtlichen Bereichen tendenziell schlechter ab als Mädchen2).
– Messungen der Stresshormone (z.B. Cortisol) in einer Tagesstätte mit hohem Qualitätsstandard haben folgendes ergeben: Die Cortisolmenge war tagsüber deutlich erhöht2). Andere Untersuchungen zeigen: Mit sinkender Qualität der Betreuungsstätte sind die Cortisolwerte noch höher. Das hat ungünstige Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung, das Immunsystem und die Stresstoleranz, was eine höhere Anfälligkeit für psychische Erkrankungen bedeutet11).

Mir ist aufgefallen, dass in deutschen Beiträgen über Fremdbetreuung typischerweise kaum brisante Forschungsergebnisse erwähnt werden, vieles einseitig und realitätsfern dargestellt wird. Es soll wohl der Eindruck entstehen, Fremdbetreuung berge überhaupt keine Risiken. Wäre es nicht das mindeste, Mütter und Väter sachlich und umfassend zu informieren? Womöglich würden sich dann viele weigern, dem "größten sozialen Massenexperiment unserer Zeit"5) ihr Kind als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen. Und mündige und kritische Eltern? – Ich habe den Verdacht, dass genau das nicht erwünscht ist. Es ist unglaublich, wie ein bestimmtes Familienmodell um jeden Preis und mit allen Mitteln durchgesetzt werden soll. Extrem verwunderlich ist nur, dass die entsprechenden Rahmenbedingungen und finanziellen Subventionen rein zufällig überwiegend für Besserverdienende geschaffen werden, die sich Fremdbetreuung und Haushaltshilfen ohnehin leisten können.

Auch bei den Wissenschaftlern spürt man den gesellschaftlichen Druck: 43 Prozent unsicher gebundene Kinder? – da darf man bloß keine voreiligen Schlüsse ziehen, da muss man weitere Forschungsergebnisse abwarten, sagen sie1) 4). 26 Prozent verhaltensauffällige Fünfjährige? – Das sagt doch gar nichts, 74 Prozent sind ja schließlich nicht auffällig5). Ist es nicht erschreckend, wie würdelos hier von Kindern geredet wird? Schon das wird eine ganze Generation prägen. Außerdem finde ich (und nicht nur ich) viele dieser Befunde sehr wohl beunruhigend. Aber beunruhigender finde ich, wie sie verharmlost und heruntergespielt werden und noch beunruhigender das allgemeine Desinteresse und Verheimlichen. Wenige Wissenschaftler trauen sich, das zu thematisieren. Sue Gerhardt, eine Psychotherapeutin, die sich stark mir den Folgen frühkindlicher Erfahrungen befasst, erwähnt "intensive Feindseligkeiten gegenüber Wissenschaftlern" und ergreift trotzdem Partei für die Kinder11). Sie wagt es zu erforschen, wie denn eine optimale Bemutterung aussehen muss und gelingen kann.

Was sind das bloß für Kulturen, die gigantische Summen dafür ausgeben, um herauszufinden, mit wie wenig Bindung, Zuwendung und Familie ein Kind gerade noch auskommt, um dann politisch und gesetzlich nicht mal dieses absolute Minimum für alle sicherzustellen. Selbst dafür ist das Geld zu schade. Das alles auch noch als familien- und kinderfreundlich zu verkaufen ist schon sehr dreist. Es ist die Reduzierung und wie A. Hochschild beobachtet, letztlich Auflösung von Familie. Und die Kinder sind eben doch die Verlierer.

Das ist meine Vision:
Die Bindung des Kindes zu seiner Hauptbezugsperson genießt besonderen gesetzlichen Schutz, besonders in den ersten drei Jahren. Die Mindestqualität und der maximale Zeitumfang von Fremdbetreuung wird gesetzlich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen geregelt. Anerkennung und angemessene Entlohnung der Familienarbeit sowie flexible Zeitmodelle für Erwerbsarbeit ermöglichen Wahlfreiheit und eröffnen viele Ideen und Wege, damit die Balance zwischen allen Lebensbereichen und Bedürfnissen gelingen – und Familie noch real gelebt werden kann.

Literatur:
1) Steuer, Faye: The psychological development
of children. California; Brooks/Cole 1994
2) Verny, Dr. Thomas; Weintraub, Pamela: Das
Baby von morgen. Frankfurt; Rogner& Bernhard bei Zweitausendeins 2002
3) Psychologie heute 1/2005
4) Dornes, Martin: Der kompetente Säugling. Frankfurt; Fischer 1993
5) Psychology today 5, 6/2005
6) Lehn, Birgitta vom: Kindeswohl, ade!
Edition Octopus 2004.
7) Die Zeit Nr. 18, 26.4.2001
8) Allmenröder, Sabine: Zeitverschwendung für die Kinder? Gedanken zur Zeitbudget-Studie "Wo bleibt die Zeit"; fh 1/2005
/p/modules/news/article.php?storyid=203

Poetschke, Jacqueline: "Wie viele Mütter verträgt der Mensch?"; fh 3/2000
/p/modules/news/article.php?storyid=90

9) Hochschild, Arlie Russell: Keine Zeit.
VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006
10) Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung vom 19.4.2001
11) Gerhardt, Sue: Why love matters.
Hove and New York; Brunner-Routledge 2004

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