Es ist Zeit! Meine Wut als Mutter über systemische Ungerechtigkeit

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Von Dr. Simone Lang in der fh 4/22

Für mutige Schritte in der Familienpolitik besteht schon seit Jahrzehnten eine riesige Notwendigkeit. Je angespannter die ökologische Lage der Menschheit im Ganzen und der entstehende gesellschaftliche Druck wird, umso dringlicher werden innovative Lösungen. Ein erster Schritt ist es, in die Familiensysteme als kleinster gesellschaftlicher Einheit zu schauen und dort mit der Veränderung anzufangen.

 

Es ist an der Zeit, neue Schritte zu gehen

Es ist an der Zeit, finanzielle Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Mütter (die bewussten Väter sind herzlich mitgemeint) ihren Erziehungsauftrag in der Familie gut unterstützt erfüllen können. Dies ist meine Schlussfolgerung aus den Erfahrungen, die ich als Mutter seit 2011 im deutschen, gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Rahmen gesammelt habe. Alle Mütter, egal ob verheiratet oder unverheiratet, ob zusätzlich erwerbstätig oder nicht, arbeiten, denn die häusliche Erziehungs- und Beziehungsarbeit ist Arbeit.
Dass der Staat diese Arbeit unentgolten einfordert, obwohl er dringend auf verantwortungsvoll erzogenen Nachwuchs angewiesen ist, muss als handfester Skandal angesehen werden. Väter sind mitgemeint, – auch wenn ihre rechtliche Situation und körperlich-emotionale Betroffenheit sich von der der Mütter unterscheiden.
In diesem Artikel geht es vor allem um den Rahmen, den Mütter im Allgemeinen für eine gelingende Mutterschaft brauchen.
Denn: Das Private ist in höchstem Maße politisch.

 

Meine eigene Trauer

Noch heute, zehn Jahre nach meinem beruflichen Aus an der Universität, bin ich manchmal verbittert, wütend oder traurig darüber. Aus der Genderforschung ist bekannt, dass es sich bei mir nicht um einen Einzelfall handelt. Es geht um eine systemische Ungerechtigkeit, die sich ebenfalls in der so genannten „gläsernen Decke“ für Frauen ausdrückt. Grund ist die Minderbewertung oder finanzielle Missachtung der Arbeitsleistung von Müttern oder frauenspezifischen Arbeitsleistungen überhaupt.

Damals sah ich mich gezwungen, meine sehr gut bezahlte, unbefristete Stelle als Dozentin an der Universität aufzugeben. Anlass war, dass ich Mutter wurde. Mein Kind war ein sogenanntes Schreibaby, d. h. ich hatte die ersten eineinhalb Jahre bestenfalls 2-3 Stunden Schlaf am Stück. Der Rahmen meiner Arbeitsstelle waren zwei kinderlose Professoren, ein vom Ost-West-Konflikt gebeuteltes Kollegium. Außerdem gaben zum Zeitpunkt meiner Elternzeit zwei meiner befreundeten KollegInnen ihre Stelle auf.

 

Die Existenzbedrohung

Meine eigene Existenz und die Existenz meines ersten Kindes waren durch das „Aus“ in meinem Beruf lebensgefährlich bedroht. „Existenz“ meint hier: unser beider physische, psychische und emotionale Gesundheit.

Physisch:

  • da mein Körper nach der Geburt heilen musste,
  • aufgrund der zusätzlichen körperlichen Belastung, das Kind zu tragen, zu wickeln etc.,
  • durch den fehlenden Schlaf.

Psychisch:

  • durch aufkommende eigene Kindheitstraumen,
  • durch die hormonelle Umstellung des Körpers, die bewirkte, dass ich mich unter anderem emotional stark an das Kind gebunden fühlte und eine hochsensible Wahrnehmung für Gefahren hatte,
  • durch die Überlastung,
  • durch den Schlafmangel und die permanente Übermüdung noch nach Jahren.

Emotional:

  • durch das Gefühl von fehlendem Schutz in verschiedenen Lebenssituationen,
  • durch fehlendes “Genährt-Werden“ in meiner neuen Lebenswirklichkeit als Mutter (z.B. durch zu wenig emotionale Unterstützung in Beruf und Familie und durch fehlende Feste meiner Mutterschaft, welche meine Leistung als Mutter in den Mittelpunkt stellen),
  • durch die Verunsicherung infolge meiner eigenen körperlichen Veränderungen.

Finanziell gerettet haben meine Existenz als Mutter und die meines Kindes mehrere Dinge – vier möchte ich hier ansprechen.

  1. Das Einfordern von Festen für mich. Beispielsweise wird bei uns nun in der Familie der Geburtstag meiner Kinder als Geburtstag von mir und dem Kind gefeiert. Ich habe meine Kinder mit meinem Körper genährt, getragen und an diesem Tag geboren.

  2. Mein wirtschaftlicher Status als gut verdienende Frau. Nach dem Aufhebungsvertrag meiner Universitätsstelle lebten wir ein Jahr von dem Geld der Arbeitsagentur. Zusätzlich arbeitete ich als Sportlehrerin und mein Kind ging in einen Kindergarten. Mittlerweile – mit zwei Kindern – ist die Berufsarbeit zu viel und überlastet unser kleines Familiensystem, so dass ich nach 10 Jahren Berufsarbeit mit zwei Kindern aussteige.
  3. Meine Absicherung über meinen Mann.
  4. Ich habe meinen Anspruch auf mein Elternhaus aufgegeben und mein finanzielles Erbe in Anspruch genommen.

 

Zum Unterschied von verheirateter und unverheirateter Mutter

Die Corona-Energieausgleichs-Pauschale

Ganz konkret habe ich die Ungerechtigkeit gespürt, als es aktuell um den Energieausgleich von 300 Euro der Regierung für den entstandenen Energie-Mehraufwand während der Corona-Lockdowns ging. Hier geht es nur um Energie wie Strom, etc. nicht um den erhöhten persönlichen Energieaufwand in Form von Stress. Als Mutter bekomme ich diese finanzielle Unterstützung nicht!

Hatte ich etwa keinen Mehraufwand?
Der Vater der Kinder bekommt die 300 Euro zusätzlich zu seinem Erwerbslohn. Wäre ich keine verheiratete Mutter, würde ich nichts bekommen. Zumindest ist mir kein Formular bekannt, mit dem ich diese Pauschale beantragen könnte, wäre ich unverheiratet.

Die Übernahme der Krankenkassenkosten

Die Kinder und ich sind aktuell über meinen Mann sozialversichert. Das ist eine große finanzielle Entlastung für mich als verheiratete Frau.
Die kommt den Kindern zugute, da es alle Prozesse entschleunigt und entspannt. Und mein Mann profitiert davon.

Durchdenke ich diese Regelung für den Fall, dass ich eine unverheiratete Mutter wäre, müsste ich mich entscheiden:
Entweder: Hartz 4 und entschleunigte Prozesse in der Familie, so dass zum Beispiel mein kleines Kind wieder viel ruhiger und ausgeglichener ist, als zur Zeit meiner Arbeit und meiner haupterwerblichen Selbständigkeit.

Oder: die eigene Übernahme der Krankenkassenkosten für mich und die Kinder. Dann wären Stress und Unzufriedenheit meine ständigen Begleiter. Mein kleines Kind würde es vermutlich in eine ADHS-Symptomatik treiben.

Ehegattensplitting – die staatliche Subventionierung der Ehe

Dadurch, dass ich mit meinem Mann zusammen in einem Haushalt wohne, spare ich – und mein Mann – eine Menge Kosten. Schließen wir eine Versicherung ab, sind wir beide versichert.
Das ist eine große Unterstützung. Zusätzlich zu den eingesparten Kosten durch das Zusammenleben, werden wir steuerlich unterstützt. Allerdings werden Kinder hier in keiner Weise berücksichtigt. Lediglich ein Kinderfreibetrag wird uns angerechnet. Wäre ich unverheiratet, müsste ich mehr Steuern zahlen. Wäre ich dazu noch mit Kindern alleine lebend, hätte ich zusätzlich eine erhöhte Familienarbeit.

 

Die Finanzsituation im Falle einer Trennung vom Kindesvater

Was hat das Ehegattensplitting jetzt mit mir zu tun? Das klingt ziemlich nach einem Paradies für verheiratete Mütter. Doch es gibt hier ein paar Tücken.
Eine Trennung vom Vater des Kindes könnte zu einem Abrutschen in finanzieller Hinsicht führen.

Für meinen Mann würde es eine zeitweise finanzielle Mehrbelastung bedeuten – die er in seinem gut bezahlten Job mit gesellschaftlicher Unterstützung durch außerhäusliche Kinderbetreuung ausgleichen könnte. Für diesen Fall sorgen wir vor:

1. Indem wir für mich eine eigene Altersvorsorge aufbauen,
2. indem wir die für den Fall einer Trennung notariell vorgesehenen rechtlichen Rahmenbedingungen so festlegen, dass mein Ausscheiden aus dem Beruf auch in seinen Langzeitwirkungen finanziell berücksichtigt wird.

Zur systemischen Ungerechtigkeit, der viele Mütter im Soge der Sorge um die eigenen Kinder erliegen: Mütter sind zwar gesetzlich verpflichtet, für ihre Kinder mindestens bis zu ihrem 18. Lebensjahr zu sorgen. Allerdings zahlen sie nicht uns, wenn sie erwerbsfähig sind, die Altersvorsorge. Sie zahlen diese dem Staat. Mütter sind – so die systemische Lösung – ohne eigenen Gelderwerb in ihrer Grundsicherung abhängig von dem, was der Staat als notwendig für sie ansieht. Dass dies Altersarmut bedeutet, ist bekannt und belegt.

 

Geld oder Ehre?

Wie ist das in unserem Gesellschaftssystem hier in Deutschland geregelt?
Können sich Mütter zumindest der Anerkennung ihrer Leistung sicher sein, wenn sie schon kein Geld damit verdienen? Ist die Mutterschaft in Deutschland ein gesellschaftlich anerkanntes und offiziell gefördertes „Ehrenamt“?

Für eine verheiratete Mutter ist der Vater das gesellschaftliche Absicherungssystem.
Gerade in den ersten Kinderjahren kann der Verlust dieses Status ́existenzbedrohend sein – für Mutter und Kinder.

Für die unverheiratete Mutter, die ihren Mutterpflichten nachkommt, gibt es die Wahl zwischen Unzufriedenheit und Stress in der Familienarbeit, aber finanziellem Überleben oder einem Leben in finanzieller Armut mit ausreichend Zeit für die Kinder.

Die Zeit wird dann qualitativ durch Existenzängste und Sorge um das eigene und das Überleben der Kinder geprägt sein. Wenn die Mutter finanzielle Unsicherheit bis hin zur Existenzbedrohung – von der physischen Existenzbedrohung durch den Geburtsvorgang reden wir hier noch nicht einmal – in Kauf nimmt, müsste ihr doch zumindest die Ehre im Sinne einer Anerkennung ihrer Lebensleistung zustehen. Sie würde sich ausdrücken, wenn die Arbeit, die energetisch geleistet wird, den Familien- und Kinderraum zu halten, finanziell und zumindest in Toleranz der Gleichwertigkeit zur Erwerbsarbeit mitgetragen würde. Dies würde sich in unserer sogenannten sozialen Marktwirtschaft zunächst in Form von finanzieller Zuwendung (elterliches Erziehungseinkommen, EEE) ausdrücken.

 

Ehre in der Familienarbeit für die Mutter

Wie ist es aber dann mit der Ehre meiner Arbeit als Mutter?

Mir ist der Punkt der Ehre so wichtig, weil wir Mütter gerade in den ersten, extrem anstrengenden Kinderjahren, von der emotionalen Zuwendung anderer leben und abhängig sind wie nie zuvor und nie danach in unserem Leben. Wir können die Kinder nur gut emotional nähren, wenn auch wir emotional satt und zufrieden sind.

Meine Erfahrung ist, dass auch der Vater die gesellschaftliche „Ehre“ bekommt, z.B. gibt es Ausschreibungen für den „Vater der Jahres“. Als Mutter würde das etwas komisch anmuten. Was gibt es als Mutter an öffentlicher Anerkennung? Seine Erwerbsarbeit wird höher gewertet als die Be-/Erziehungsarbeit mit den Kindern. Und: Wer das Geld nach Hause bringt, entscheidet oft, wie und wofür es ausgegeben wird.

 

Sprachliche Verschleierung der Tatsachen

Die Aberkennung der Mutterehre wird gerne durch Abwertung ausgedrückt oder: noch diffiziler: in Worten verschleiert.
Im allgemeinen Sprachgebrauch heißt es: Das Kind wurde am … geboren. Die Mutter ist in dieser gängigen Formulierung unsichtbar. Besser wäre es, zu sagen: „Die Mutter hat das Kind am … geboren.“ Im Magazin der gesetzlichen Rentenversicherung lese ich von der „Rentenfalle“ der Mütter, die gerade nach dem zweiten Kind oftmals der Erwerbsarbeit nicht mehr nachgehen. Damit liegt in der Formulierung und im Wortsinn die Schuld bei den Müttern. „Familienarbeit“, dies zeigt sich in der „Rentenfalle“, ist in der gesellschaftlichen Realität vorrangig Müttersache. Es ist damit genau genommen in erster Linie Mütterarbeit und keine Familienarbeit.

 

Forderungen an die Politik

1. Die Lebenswirklichkeit von Eltern sollte wirtschaftlich der der kinderlosen Erwerbstätigen angeglichen werden.
Den Forderungen des Verbandes Familienarbeit e.V. kann ich voll zustimmen. Sie scheinen mir durchdacht und in einem gerechteren Gesellschaftsmodell begründet zu sein. Hier zitiere ich den Verbandsvorsitzenden Dr. Johannes Resch: „Ich meine, dass die Anerkennung der Erziehungsarbeit nicht allein durch Steuererleichterungen erreicht werden kann, wie es etwa im Ehegattensplitting erfolgt. Denn das würde sich nur bei Verheirateten und bei Gutverdienern einigermaßen auswirken. Wenn tatsächlich die elterliche Erziehungsarbeit anerkannt werden soll, werden wir um eine direkte Bezahlung nicht herumkommen. Schließlich werden auch die Erzieherinnen in einer Krippe oder einem Kindergarten ‚direkt‘ bezahlt.“

In diesem Sinne haben wir gemeinsam mit dem Verband für Familienarbeit e.V. eine Klage eingereicht, bei der wir Eltern fordern, dass zumindest in den ersten drei Lebensjahren des Kindes unsere Betreuung in der Häuslichkeit rückwirkend finanziell der der Betreuungsleistung in sogenannten Krippen gleichgestellt werden soll. Dass dies bisher nicht geschieht, ist empörend,

2. Die Finanzierung von Müttern muss sich über die Lebensspanne hinweg langfristig am Lebensstandard von Erwerbstätigen orientieren. Es geht um die Berücksichtigung der Lebensleistung durch die Entscheidung für Kinder in der eigenen Biographie. Dass dies nicht geschieht, zeigt die Tatsache der Altersarmut von Müttern – nicht von Vätern.

Von der Wurzel her lässt sich dies meiner Ansicht nach denken, wenn an der Finanzierung der Mütter und ihrer Kinder angesetzt wird. Eine staatliche Finanzierung aller Mütter – egal, welche Rolle sie für ihr Leben wählen – ob verheiratet oder ledig, ob berufstätig, in Karri- ere oder mit dem Schwerpunkt auf der Familienarbeit, ist überfällig. Konkret heißt das beispielsweise: es braucht rechtliche Veränderungen im BGB. Verheiratete Mütter müssen im Falle einer Trennung vom Kindsvater seinem Standard gleichgestellt werden.

3. Die Corona-Energieausgleichs-Pauschale muss unabhängig von einer Berufstätigkeit allen Müttern mit Kindern ausgezahlt werden, gleichgültig ob diese erwerbstätig sind oder nicht.

4. Die Krankenkassenbeiträge müssen für alle Mütter bis zum 18. Lebensjahr des letzten Kindes übernommen werden – gleichgültig ob sie erwerbstätig sind oder nicht.

5. Es braucht nicht nur eine Frauenquote, sondern eine Mütterquote in Unternehmen und Politik. Erfahrungswerte zeigen, dass sich ein Umdenken in öffentlichen Entscheidungen anbahnt, wenn eine bestimmte Gesellschaftsgruppe in einem Team vertreten ist.

 

Fazit

Es ist Zeit für eine systemische Umstrukturierung.

Es ist Zeit für die Abschaffung der existentiell bedrohlichen, gesellschaftlichen Ungerechtigkeit gegenüber Müttern und ihren Kindern. Was wir davon erwarten können? Glücklichere Mütter, glücklichere Kinder und eine glücklichere Gesellschaft.

 

Ausblick

Um im Verband Familienarbeit e.V. in konkretes Handeln zu kommen, könnten wir unsere Solidarität unter und mit Müttern durch ein Armband ausdrücken. Wenn sich Menschen finden, die Lust haben, für ein Armband mit mir die Gestaltung, die Produktion und den Vertrieb zu übernehmen, freue ich mich, wenn sie sich bei mir unter info@familienpraxis-lang.de melden.

Frau Dr. Lang hat auf Lehramt Gymnasium studiert und übt den Beruf einer Familienberaterin aus.

 

Weiterführende Links:

– Ella Anschein spricht in der WDR Ladies Night über Armut („Armut ist kein Zustand, sondern eine Eigenschaft“) unter www.youtube.com/watch?v=z-9VvSo33vM0

– Einen wunderbaren Erfahrungsbericht zur Mutterarbeit während der Corona-Lockdowns gibt es unter www.stadtlandkind.info/die-vereinbarkeitsluege – Die Anforderungen des ersten Jahres als Mutter beschreibt Monika Nowotny in ihrem Buch „Iron Mom – der ultimative Trainingsratgeber für den härtesten Sport der Welt“

– Mutige Mütter sprechen über ihre Lebensrealität beispielsweise unter www.editionf.com/Wie-es-sich-anfuehlt-finanziell-nicht-fuer-sich-selbst-sorgen-zu-koennen

– Ritualarbeit zur Stärkung der eigenen Weiblichkeit ist zu finden bei Alexa Szeli unter www.taste-of-power.de

– Weitere Blogartikel zu meinem persönlichen Weg mit Kindern lassen sich über die Schlagwortsuche finden unter www.familienpraxis-lang.de/blog

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