Die demographische Zeitenwende

Herwig Birg
Verlag Beck München 2001, 220 Seiten

Eine Besprechung von Monika Bunte

Der Titel des Buches ist ein Geschenk: endlich spricht jemand nicht vom demographischen Wandel. "Wandel" ist positiv konnotiert: alles wird gut. – Bei demographischer "Zeitenwende" ist klar, dass eine fundamental andere Situation vor uns liegt.
Ein Drittel aller nach 1960 geborenen Frauen (und vermutlich auch die dazugehörigen Partner) hat keine Kinder. (In der nächsten Generation wird die Hälfte aller Einwohner in Deutschland keine Enkelkinder haben. M. Bunte) Der Autor ist weltweit einer der renommiertesten Experten für Bevölke-
rungsfragen. Auf dem Berliner Kongress "Demographie und Wohlstand" am 12./13. Juni 2002 gehörte er zu den herausragenden Referenten (vgl. Bericht in Fh 3/2002). In seinem Buch bringt Birg Kapitel über die Eigendynamik der demographischen Schrumpfung, über die Auswirkungen auf den Bedarf an Wohnraum und die Konsequenzen für die sozialen Sicherungssysteme.

Der Autor stellt fest, dass es eine (braune) Bevölkerungspropaganda gab, und er findet gut, dass es keine mehr gibt. Dass es aber vielen Menschen geboten erscheint, demographische Probleme auf möglichst demonstrative Weise zu verdrängen, findet er falsch. "Man muss sich fragen, ob nicht vielleicht die besonders engagierten Gegner (jeder Art von öffentlicher Reflexion über Bevölkerungsfragen) gegenüber jenen politischen Versuchungen besonders anfällig sind, deren Folgen sie zu Recht fürchten." Dieses Zitat führt Birg weiter aus, indem er Vergleiche aus dem Suchtbereich bringt, wo es für den Süchtigen nahe liegt, den Suchtstoff total zu meiden. "Die große Mehrheit der
Bevölkerung ist jedoch nicht suchtkrank", d.h. sie kann sich getrost mit dem Thema Demographie auseinandersetzen. Deshalb sind wir in der dhg gut beraten, wenn wir uns dem Thema Demographie und Be-
völkerungspolitik stellen.* Der Bevölkerungspolitik sind Grenzen gesetzt im Hinblick auf biografische Entscheidungen, aber wir wissen ja vom Reisen, dass es offene Grenzen gibt.

Bezüglich der Konsequenzen für die sozialen Sicherungssysteme schreibt Birg, dass der Wohlfahrtsstaat durch die demographische Entwicklung so radikal in Frage gestellt ist wie durch keinen anderen Faktor. Es gibt viele Allerweltsvorstellungen über die Gefahren der Bevölkerungsexplosion in den Ländern der Dritten Welt, aber wenige Hinweise auf die Bevölkerungsimplosion in Europa. Warum ist über die demographische Zeitenwende so wenig bekannt? "Die Partei, die den Wählern zuerst die Wahrheit über die demographische Realität sagt, hat die nächste Wahl verloren."

Der Autor vermutet, dass die Paare, die überhaupt Kinder haben, mit durchschnittlich 2,1 Kindern nicht mehr Kinder wünschen. Wenn die Geburtenzahl durch familienfreundliche Bevölkerungspolitik erhöht werden soll, sieht er die Möglichkeit bei denen, die keine Kinder haben. Dieser Anteil ist in Deutschland besonders hoch. Die höhere Geburtenzahl in Frankreich ist dadurch bedingt, dass es wirklich weniger Frauen gibt, die lebenslang kinderlos bleiben.

Von finanziellen Zuwendungen meint Birg, dass sie zunächst Impulse setzen, die wieder "verdunsten". Dazu mein Kommentar, dass die geringen Gaben bislang ja wirklich nur ein Strohfeuer hervorbringen konnten. Die Alternative wäre, dass die Eltern schon beim ersten Kind ein Entgelt für ihre Familienarbeit bekämen und dass sie ermutigt würden, noch ein weiteres Geschwisterkind aufwachsen zu lassen, selbst wenn schon zwei das sind.

Diese Alternative wird im Buch nicht weiter verfolgt. Aber ich denke, die Wissenschaft wird sich dem Thema zuwenden. Der Anfang ist gemacht mit den Berechnungen von Elisabeth Jünemann und Hans Ludwig: "Vollbeschäftigung ist möglich!", worüber wir in Fh 1/2003 berichtet haben.
*Prof. Max Wingen schlägt übrigens den Ausdruck "bevölkerungsfreundliche Familienpolitik" vor.

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