von Gertrud Martin
Im Jahr 1919 wurde den Frauen in Deutschland das politische Wahlrecht eingeräumt, für das sich die frühen Frauenrechtlerinnen unermüdlich eingesetzt hatten. Wir Heutigen sollten diese Errungenschaft nicht geringschätzen, nur weil die Vorstellung, Frauen könnten vom Wahlrecht ausgeschlossen sein, heute so absurd erscheint, wie sie damals schon war. (Der Leipziger Neurologe und Psychiater Paul Julius Möbius (1853–1907) attestierte den Frauen per se – allein aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit – „physiologischen Schwachsinn“.)(1)
Artikel 20 unseres Grundgesetzes ist einer der wenigen mit „Ewigkeitscharakter“. Das bedeutet, er kann unter keinen Umständen jemals geändert werden. Dort steht unter Absatz 2: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“
Erst in Artikel 38, Absatz 1 der Verfassung werden die Wahl zum Bundestag als „allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim“ und in Absatz 2 das Wahlalter festgelegt. Wie wir wissen, ist dieser Artikel 38 nicht mit dem Merkmal der ewigen Gültigkeit ausgestattet, denn das Wahlalter ist schon einmal von 21 auf 18 Jahre gesenkt worden. Absatz 3 sagt folgerichtig: „Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.“(2)
Initiativen zum Kinderwahlrecht
Die Frage ist nun, ob das Wahlrecht – so, wie es heute gilt – zeitgemäß, zukunftsfest und demokratisch ist. Oder muss es neuen Erkenntnissen und Entwicklungen entsprechend geändert werden? In den beiden vergangenen Legislaturperioden des Bundestags gab es bereits zwei Initiativen von Abgeordneten aus allen Parteien, die vorschlugen, ein Wahlrecht für die Kinder einzuführen, das von den Sorgeberechtigten treuhänderisch oder aus ihrem Sorgeauftrag folgend wahrgenommen werden soll.
Der Diplom-Volkswirt Udo Hermann schreibt: „Minderjährige Kinder besitzen zwar keine Wahlberechtigung, dürfen aber: ab Geburt z.B. Immobilienbesitzer, Unternehmer, Aktionär mit
Stimmrecht und Steuerzahler sein, ab dem 14. Lebensjahr die Religionsfreiheit genießen und ab dem 16. Lebensjahr heiraten, Auto fahren und an den Sozialwahlen teilnehmen.“(3) Tatsächlich ist nicht einzusehen, warum Eltern in allen anderen Belangen für die Wahrung der Interessen ihrer Kinder zuständig sein sollen, nicht aber, wenn es um das Wählen geht.
Immer wieder entzündet sich der Meinungsstreit zwischen den guten und den „besseren“ Demokraten einerseits an der Frage, ob es angehen könne, dass Sorgeberechtigte dann praktisch über mehr Wahlstimmen verfügen könnten als andere BürgerInnen, und andererseits an der Feststellung, dass unsere Kinder doch zweifelsfrei zum Volke gehören, von dem alle Staatsgewalt ausgehen soll.
Das wachsende demografische Defizit verstärkt erheblich das Demokratiedefizit
1964 wurden in beiden Teilen Deutschlands zusammen rund 1,36 Mio Kinder geboren (1.065.437 in der BRD = 78,5 Prozent und 291.867 in der DDR = 21,5 Prozent). 2012 waren es knapp 674.000 (Alte Bundesländer: 538.753 = 80,0 Prozent, Neue Bundesländer: 100.113 = 14,9 Prozent, Bundesland Berlin: 34.678 = 5,1 Prozent).(4) Die jährliche Geburtenzahl ist also heute nicht mal halb so groß wie vor 50 Jahren. Betrachtet man die Abhängigenquotienten (Summe von Jugend- und Altenquotienten; zu Grunde liegen ganz pauschal die Altersgruppen, unabhängig davon, ob die Menschen überhaupt erwerbsfähig sind oder tatsächlich ein Einkommen beziehen), so ergibt sich Folgendes (Datenbasis der zur Anschauung gewählten Jahre siehe Fußnote 5). In dem Datenreport sind die demografischen Grunddaten der Jahre 1950, 1960, 1970 … bis 2011 sowie Prognosen für 2020, 2030, 2040 und 2016 zu finden.
Nehmen wir jeweils gleich viele (100) Menschen im „Mittleren Alter“ als Referenz, so hat diese Gruppe für einen zunehmend größer werdenden Kreis Älterer zu sorgen und dabei nicht nur deren Einkommen zu sichern, sondern auch deren medizinische Versorgung und Pflegebedarf zu „stemmen“.
Nachdem nun die nachwachsenden Generationen zahlenmäßig immer schwächer werden und die Kohorten der Ruheberechtigten massiv anschwellen, wird immer offensichtlicher, dass dieses mit jeder Legislaturperiode wachsende Ungleichgewicht ein gravierendes Demokratiedefizit nach sich zieht. Die Gesetzgeber gewichten ganz automatisch die Interessen der Wahlberechtigten schwerer als die der nicht wahlberechtigten Kinder. Es sind aber doch die Kinder, die die Folgen neu erlassener Gesetze am längsten „ausbaden“ müssen! Im Umkehrschluss bedeutet das: Erst mit einem Wahlrecht, das auch die Interessen der Nachwachsenden berücksichtigt, werden die Parteien sich überlegen, was sie in ihren Programmen verankern wollen, um diesen Interessen gerecht zu werden.
Was plant die Bundesministerin für „Familie, Senioren, Frauen und Jugend“?
Am 16. Mai 2014 feierte der Deutsche Familienverband (DFV) sein 90-jähriges Bestehen. Unter den FestrednerInnen befanden sich einige, die sich für das Kinderwahlrecht stark machten, darunter die frühere Familienministerin Renate Schmidt (SPD)(6). Und ihre Amtsnachfolgerin Manuela Schwesig (SPD) offenbart in einem Interview: „Kinder sollten eine stärkere Stimme in der Politik haben. Deshalb finde ich persönlich die Idee eines Familienwahlrechts gut. Dann bekäme ein Elternteil pro Kind eine zusätzliche Stimme bei Wahlen.“(7) Während ihrer aktuellen Amtszeit hat sich gezeigt, dass sie über genügend Kreativität, Entschluss- und Tatkraft verfügt, auch schwierige Dinge anzupacken.
Das entscheidende Thema, dessen Tragweite Frau Schwesig noch nicht erkannt zu haben
scheint, ist die Frage: „Wie geht unsere Gesellschaft – und hier vor allem die Bundesministerin für Frauen und Familie – mit den Eltern und mit denen, die es werden sollen/wollen, um?“ Zählen Frauen nur dann als gleich zu Berechtigende, wenn sie als (kostengünstige) Vollzeit-Arbeitskräfte und Quotenfrauen der Wirtschaft zur Verfügung stehen? Ist ein Elterngeldgesetz vernünftig und verfassungsgerecht, das die Betreuung mehrerer eigener Kinder als Nicht-Leistung einstuft und gegenüber den NutzerInnen des Krippenangebots mit nur 1/6 des Betrags abspeist? Ist ein Rentenrecht „zielführend“, das die Früchte der elterlichen Erziehungsleistung, nämlich die Sicherung des Alters, den Eltern wegnimmt, um sie vorrangig den Menschen zukommen zu lassen, die keinen Nachwuchs für die Rentenkasse aufziehen? Ist der Streit um das Betreuungsgeld und um die Erhöhung der Rente für alte Mütter also nicht eine Schande? Glaubt man wirklich, dass sich Väter in genügender Anzahl dazu bereitfinden werden, den totgeredeten „Platz am Herd“ zu übernehmen? Oder soll es diesen Arbeitsplatz in Zukunft einfach gar nicht mehr geben?
Handeln tut not
Das Fazit, das der Verband Familienarbeit aus all diesen Ausdrucksweisen vor allem der Mütterfeindlichkeit zieht, lautet: „Eine Gesellschaft, die keine Mütter will, wird vergeblich auf mehr Kinder hoffen!“ Und: „Eine Demokratie, die die Wahrung der Interessen der Nachwachsenden als unverbindliche ‚freiwillige Leistung‘ betrachtet, schaufelt sich ihr eigenes Grab.“
In diesem Sinne wünscht der Verband Familienarbeit der Familienministerin neue, bahnbrechende Einsichten und gutes Gelingen für die daraus folgenden Maßnahmen!
Fußnoten:
(1) Paul Julius Möbius: „Ueber den physiologischen Schwachsinn des Weibes“. 1. Aufl. Verlag Carl Marhold, Halle 1900. Faksimile im Internet unter https://archive.org/details/ueberdenphysiolo00mb2
(2) Im Internet unter http://www.gesetze-im-internet.de/gg/
(3) Udo Hermann, Gebt den Kindern das Wahlrecht. Das (Kinder-)Wahlrecht aus ökonomischer Sicht. Online-Beitrag (10. Feb. 2012) unter: http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2012/02/gebt-den-kindern-das-wahlrecht/
(4) Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Fachserie 1:
Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Reihe 1.1 Natürliche Bevölkerungsbewegung. Bundes- und Länderergebnisse. Berichtsjahr: 2012. Erschienen am 28. April 2014. Hier: S. 24f
(5) Statistisches Bundesamt (Destatis); Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Zentrales Datenmanagement (Hrsg.). In Zusammenarbeit mit Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin): Datenreport 2013: Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland (2013). Kapitel 1, Bevölkerung und Demografie, Hier: S. 14; S. 24
(6) Bericht im Internet: http://deutscher-familienverband.de/11-aktuelles/
(7) Rhein-Neckar-Zeitung vom 20.11.2014. Vom Ministerium veröffentlicht unter www.bmfsfj.de/BMFSFJ/aktuelles/