Irrt die Bindungstheorie?

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Von Beri Fahrbach-Gansky aus der fh 4/23

„Mama, bei dir bleiben!“ Mit diesem Satz verkündeten meine Kinder, als sie klein waren, unmissverständlich ihr Bedürfnis nach „Mama“. Das ist Bindungsverhalten, das jede Mutter beobachten kann und nur zu gut kennt. Es ist John Bowlbys Verdienst dieses Bindungsverhalten wissenschaftlich untersucht und eine Theorie der Bindung entworfen zu haben.1

Heidi Keller schrieb einen Artikel mit dem Titel „Die fundamentalen Irrtümer der Bindungstheorie“.2 In einer sehr abwertenden, fast höhnischen Sprache diffamiert sie sehr zu Unrecht die Bindungstheorie als unwissenschaftlich und überwiegend falsch. Auf die wichtigsten Vorwürfe will ich hier eingehen. Kellers ständig wiederholte Behauptung, der Bindungstheorie mangele es an Definitionen und „wenige Kernannahmen“ seien „nicht logisch miteinander verknüpft“ – Bindungstheorie wisse sozusagen selber nicht, was sie aussage – ist einfach falsch. Gerade Bowlby selber war sehr akribisch und systematisch. Aber auch anderen, wie z.B. dem Ehepaar Grossmann, tut sie da sehr unrecht. „Bindung wird allgemeinverbindlich als emotionales Band zwischen zwei Menschen definiert“, behauptet Keller. Dazu im Gegensatz Bowlbys Definition: Das Band des Kindes zu seiner Mutter ist ein Produkt der Aktivität einer Anzahl von Verhaltenssystemen, die die Nähe zur Mutter als vorhersagbares Ergebnis haben.3 Die Bindungstheorie betrachtet und untersucht die Beziehung zwischen Bindungspersonen und Kind aus Sicht des Kindes. Das Bindungsbedürfnis gehört zur biologischen Ausstattung eines Kindes, wie „Hunger“, „Müdigkeit“, usw. Diese biologischen Systeme signalisieren ein Bedürfnis, das deren Befriedigung einleiten soll (z.B. Nahrungssuche und -aufnahme). „Es geht um die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes und zwar jenseits von ideologischen Denkmustern“4, wie Erika Butzmann schreibt. Ein weit verbreitetes Problem von Kommunikation ist, dass Dinge in Aussagen von anderen hineninterpretiert werden, die nicht gesagt wurden. So behauptet Keller, dass die Bindungstheorie dem Band zwischen Mutter und Kind Priorität einräume, den Vater aber ins Abseits dränge, und dass Bindungstheorie behaupte, „dass nur Erwachsene Bindungspersonen für kleine Kinder sein können“. Beides wurde nie behauptet. Sondern Bowlby selber schreibt: „As a matter of empirical fact there can be no doubt that virtually in every culture the people in question are most likely to be his natural mother, father, or siblings, and perhaps grandparents ….“ (Als eine Sache empirischer Fakten kann kein Zweifel bestehen, dass nahezu in jeder Kultur die fraglichen Personen (Anm: Bindungspersonen) mit höchster Wahrscheinlichkeit seine leibliche Mutter, Vater oder Geschwister oder vielleicht Großeltern sind. Übersetzt von mir). Außerdem ist es einfach Tatsache, dass die primären Bindungspersonen in fast allen Kulturen überwiegend die Mütter sind. Die Bindungstheoretiker thematisieren sehr wohl, dass Kinder sich auch an andere Kinder binden und dass sie sich sogar an Gegenstände binden können. Das sind die „Schmusedecken“ oder Schnuller, bei deren Fehlen das Kind „durchdreht“. So schiebt Keller alles Mögliche der Bindungstheorie unter, ohne es zu belegen, geschweige Quellen oder Personen zu nennen. Auffällig ist, dass sie von „Annahmen“ spricht. Damit suggeriert sie, dass Bindungstheorie blanke, frei erfundene Theorie sei, ohne Verankerung in der Realität. Es war aber gerade der Verdienst von Bowlby – im Gegensatz zur Psychoanalyse –, seine Theorien auf soliden wissenschaftlichen Boden gestellt zu haben.

Die Bindungstheorie beruht auf Versuchen, Beobachtungen, Studien an Tieren und Menschenkindern, auch in verschiedenen Schichten und Kulturen. Es wurde beobachtet, dass Kinder an eine ganz bestimmte Person bevorzugt und überhaupt Bindungsverhalten richten. Diese wird z.B. „primäre Bindungsperson“ genannt. Weitere Personen, an die ein Kind Bindungsverhalten richtet, z.B. wenn die primäre Bindungsperson nicht verfügbar ist, werden als „sekundäre Bindungspersonen“ bezeichnet. Beide wählt das Kind selber aus!

Das wurde immer wieder bestätigt, z.B. in Heimen, wo Kinder eindeutig eine Pflegeperson unter vielen bevorzugen oder bei gleichgeschlechtlichen Paaren, die sich die Betreuung halb/halb aufteilen, aber das Kind trotzdem ein Teil bevorzugt, usw. Mir ist nicht bekannt, dass das widerlegt wurde. Es geht auch nicht darum, wie viele Personen sich sonst noch um das Gedeihen eines Kindes bemühen. Mehrmals formuliert Keller Vorwürfe wie, die Bindungstheorie fordere die „vollständige Aufgabe der eigenen Bedürfnisse, …, wie es in der Bindungstheorie z.B. mit dem Sensitivitätskonzept vorgegeben ist.“ „Die Bindungstheorie geht jedoch davon aus, dass die beste Kommunikationsform exklusiv dyadisch ist, in der sich die eine erwachsene Bezugsperson ausschließlich auf ein Kind konzentriert und prompt, angemessen und sensitiv auf alle kindlichen Signale reagiert“ und sie konstruiere ein „Erziehungsideal“. Solche Forderungen sind mir nie begegnet. Diese Vorwürfe sagen vor allem viel über Kellers Wissenschaftsverständnis aus.

Die Wissenschaft erforscht aber die Wirklichkeit, stellt darüber Theorien auf. Es ist eigentlich nicht ihre Aufgabe etwas zu fordern noch irgendwelche Handlungsvorgaben zu machen, wie Keller das unterstellt. Das fällt in die Zuständigkeit anderer Disziplinen wie Pädagogik, Ethik, Politik, Recht, usw. Nehmen wir ein Beispiel: Frau Müller will spazieren gehen. Eine Untersuchung der Wirklichkeit ergibt, dass es regnet. Was sie für sich daraus ableitet, hat mit der Erforschung der Situation nichts mehr zu tun. Das ist Frau Müllers Entscheidung. Sie kann z.B. entweder einen Schirm mitnehmen, den Spaziergang verschieben oder beschließen, nie mehr spazieren zu gehen.

Dass diese zwei Dinge, die Forschungsergebnisse und welche Schlüsse/Konsequenzen daraus gezogen werden, in einen Topf geworfen werden, hat heutzutage Methode. Als gäbe es nicht viele Möglichkeiten auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu reagieren! Keller geht noch einen Schritt weiter und leitet aus diesen angeblichen Forderungen, Vorgaben weitere Vorwürfe ab, z.B. dass die Bindungstheorie „verantwortlich für das parental burnout“ sei. Eine wissenschaftliche Theorie für deren Folgen, alle möglichen gesellschaftlichen Entwicklungen verantwortlich zu machen ist nicht wissenschaftlich, oder nur dann wissenschaftlich, wenn man seine Aussagen z.B. im Rahmen einer soziologischen Studie genau benennt und belegt. Was Keller eben nicht tut. Schließlich zeigt sie mit diesen Vorwürfen, dass sie Grundlegendes der Bindungstheorie nicht verstanden hat. Das eine ist das Bindungsverhalten des Kindes und klar davon zu unterscheiden ist die Qualität der Bindung.

Bowlby bringt das Beispiel eines Lämmchens, das einem garstigen Hund untergeschoben wird. Das Lämmchen rennt dem Hund hinterher, zeigt also Bindungsverhalten! Da Schmerz und dgl. Bindungsverhalten triggert, zeigt das Lämmchen umso verzweifelter Bindungsverhalten umso garstiger der Hund zu ihm ist. Ein Kind bindet sich auch an eine Person, die unsensibel agiert oder es gar misshandelt. Das muss man verstanden haben!

Für die Bindungsqualität dagegen ist die Feinfühligkeit der Bindungspersonen ein wichtiger, viel erforschter Einflussfaktor. Ein durchgehender Vorwurf ist, die Bindungstheorie sei eine „westliche Mittelschicht Philosophie“ und habe daher keine „universelle Gültigkeit“. Tatsächlich machte Mary Ainsworth, Bindungswissenschaftlerin der ersten Stunde, selber Beobachtungen in Uganda. Es gibt zu diesem Thema sehr wohl gute Beiträge.5 Auch hier behauptet Keller sehr undifferenziert viel und belegt wenig. Meines Erachtens müsste sie doch nach ihrer eigenen Logik der Bindungstheorie wenigstens in ihrem angeblichen Forschungsbereich Gültigkeit zugestehen.

Besonders schwer wiegt der Vorwurf, die Bindungstheorie sei nicht wissenschaftlich. Das allermindeste wäre, dass sie ihre Vorwürfe anhand von Aussagen aus den Arbeiten der Vertreter der Bindungstheorie belegt!! Es wäre z.B. zu belegen, dass Bowlby in seinem Werk „attachment“ wissenschaftliche Standards verletzt. Weiter wäre zu belegen, wo z.B. die Studie von Grossmanns nicht wissenschaftlich seriös ist, usw. So ist das einfach nur Hetze. Stattdessen führt Keller Kriterien an, an denen sie die Wissenschaftlichkeit von Bindungstheorie (wie sie sie versteht) misst, die überwiegend gar nicht grundsätzlich erfüllt sein müssen, damit etwas wissenschaftlich ist. Es sind lediglich wünschenswerte Kriterien für gute Wissenschaft.

Sie führt als Disqualifikationsmerkmale für Wissenschaftlichkeit an, dass unter Bindungstheoretikern „keine Einigkeit … herrsche“, erweckt damit den Eindruck, etwas sei nur wissenschaftlich, wenn Einigkeit herrsche. Und sie wirft vor, sie würden sich einer Weiterentwicklung und Erweiterung ihrer Theorie verweigern. Im Widerspruch dazu gesteht sie Weiterentwicklung nicht zu, da wo sie stattfand (weil nicht in ihrem Sinne?), sondern erhebt Vorwürfe wie, das seien „Minitheorien“ die „kein geschlossenes System“ bilden, „unverbunden nebeneinander“ existieren, usw. und fordert „wenige Annahmen“ zu erheben.

Das ist fatal! Wissenschaft lebt davon, dass Theorien aufgestellt werden, eben keine Einigkeit herrscht, Kritiken aufkommen und diese diskutiert werden. Wissenschaft lebt auch davon, dass sich ein Gebiet auffächert, neue Ideen, Aspekte, Forschungen, usw. dazukommen, ja, dass sich verschiedene Richtungen, Schulen herausbilden.

Es macht auch keinen Sinn, früheren Bindungsforschern vorzuwerfen, dass sie später gewonnene Erkenntnisse nicht hatten und nicht berücksichtigt haben.

Das war nun keinesfalls eine erschöpfende Behandlung von Kellers Vorwürfen an die Bindungstheorie und deren Vertreter. Bowlby stellte auch zu seiner Zeit bestehende Theorien der Psychoanalyse in Frage. Besonders beeindruckt hat mich, dass er die Position der anderen genau kannte und immer korrekt und wertschätzend seine Kritik und dazu Belege anführte. Ein wahrer Gentleman! Umso unangenehmer stoßen mir Kellers Ungenauigkeiten und mangelnde Kenntnisse der Bindungstheorie, fehlende Belege und ihr verächtlicher, flapsiger Stil auf.

 

1  Bowlby, John: Attachment.1982 Basic books; Separation, anxiety and anger. 1973 penguin books

2  Keller, Heidi: Das KitaHandbuch: https://www. kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/psycho- logie/die-fundamentalen-irrtuemer-der-bindungs- theorie/

3  „It postulates that the childs tie to his mother is a product of the activity of a number of behavioural systems that have proximity to mother as a predic- tible outcome“

4  Erika Butzmann: https://www.socialnet.de/rezensi- onen/28550.php

5  Grossmann, Karin und Klaus: Universal and culturally specific aspects of sensitive responsi- veness to young children, Attachment & Human Development 2021, vo 223, 231-238

 

Comments

  1. Marion Ulherr schreibt:

    Hier mal ein wissenschaftlich völlig unfundiertes Statement zur Bindungstheorie, basierend ausschließlich auf langjähriger Berufserfahrung in der Kitabetreuung.
    Es gibt Kinder, die marschieren vom ersten Tag an selbstbewußt in die Kita, weinen Mutter oder Vater nicht eine Träne nach und genießen den Trubel und dass „immer was los ist“. Sie schließen schnell Freundschaften und agieren recht unabhängig von den anwesenden Erzieherinnen. Am Wochenende oder in den Ferien „nerven“ sie ihre Eltern mit der ständigen Frage, wann sie denn endlich wieder in den Kindergarten dürfen.

    Es gibt Kinder, die marschieren von Anfang an ebenso selbstbewußt in die Kita. Nach zwei/drei/vier Wochen, wenn der Reiz all des überwältigend Neuen sich ein wenig abgenutz hat und sich eine gewisse Routine einschleicht, realisieren diese Kinder zum ersten mal so richtig, daß sie sich von ihrer engsten Bezugsperson trennen müssen. Das sind die Kinder, die sich dann plötzlich morgens beim Bringen an Mamas oder Papas Bein klammern und sich von der Erzieherin wegdrehen. Man erkennt sie auf einmal nicht wieder. Bei diesen Kindern beginnt die Eingewöhnungsphase sozusagen mit Verzögerung. Bei den einen klappt es schneller, bei den anderen dauert es länger und manche „gewöhnen“ sich zwar ein, erreichen aber nicht mehr das Level ihrer überschwänglichen Anfangszeit.

    Dann gibt es die Kinder, die während und/oder nach der Verabschiedung von Mama oder Papa noch ein paar Tränen vergießen, sich aber schnell von der Erzieherin, anderen Kindern oder den mannigfaltigen Spielmöglichkeiten mitreißen lassen und ihren Trennungsschmerz rasch überwinden.
    Manche dieser Kinder brechen aber in der Abholzeit, sobald sie ihre Eltern sehen, sofort wieder in Tränen aus. Diese Kinder zeigen, daß sie unbewußt doch den ganzen (Vormit-)Tag unter großer Anspannung standen, auch wenn man ihnen das oberflächlich betrachtet, nicht angemerkt hat.

    Es gibt aber auch Kinder, die ganz offensichtlich noch nicht bereit sind. Die sich schreiend an ihre Eltern klammern, die sich von niemandem sonst beruhigen lassen, die sich in ihrer Anfangszeit am liebsten unterm Tisch oder in irgendeiner „Höhle“ verkriechen und niemanden an sich heranlassen.
    Irgendwann arrangieren sich auch diese Kinder mit dem „Unausweichlichen“.
    Aber nicht, weil sie nun tatsächlich einen Entwicklungsschritt vollzogen haben und emotional in der Lage sind, sich von ihrer engsten Bezugsperson zu lösen, sondern weil ihnen nichts anderes übrig bleibt.

    Was sagt uns das jetzt über irgendwelche, wissenschaftlich mehr oder weniger umstrittene, Bindungstheorien?

    Meine ganz persönliche Erkenntnis daraus ist folgende:
    Kinder sind Individuen, wie wir alle.
    Keines gleicht dem anderen.
    Sie sind geprägt durch unterschiedliche Faktoren wie Veranlagung, Familie, soziales Umfeld etc.
    Ein Kind, daß von Anfang an ein gesundes Urvertrauen entwickeln konnte, weil es empathische, liebende, zugewandte Eltern hat, tut sich möglicherweise leichter schon mit zwei Jahren ein paar Stunden in einer Krippe zu verbringen, als ein Kind, das diesbezüglich mit größeren Unsicherheiten kämpfen mußte.
    Daß ein Kind in den ersten Lebensjahren ein stabiles Umfeld braucht, in dem es Liebe, Sicherheit und Geborgenheit erfährt, bestreitet sicher niemand.
    Daß es eher kontraproduktiv ist, wenn es allzu viele, häufig wechselnde Betreuungspersonen gibt, zwischen denen es hin und her gereicht wird, dürfte auch klar sein.

    Die Crux ist doch, daß das aber kaum eine Rolle spielt. Kinder sollen heute, am besten schon Einjährig, einen Großteil ihres Tages in Krippen verbringen, weil –

    1. ein Einkommen häufig nicht mehr reicht, um über die Runden zu kommen
    2. die Ansprüche, was einen angemessenen Lebensstandard betrifft, gestiegen sind
    3. die Arbeitgeber Eltern möglichst zügig wieder als Arbeitskräfte zur Verfügung haben wollen
    4. eine völlig fehlgeleitete Gleichberechtigungsideologie, die sich ausschließlich an der Erwerbstätigkeit von Frauen orientiert und dabei völlig vernachlässigt, daß Frauen nun auch mal Mütter sind.

    Die Bindungstheorie – egal wie man sie nun auslegt – spielt bei der Entscheidung darüber, ob und ab wann und wie lange Kinder heute eine Kita besuchen, kaum noch eine Rolle.
    Es ist in unserer Gesellschaft schlicht egal, was die wirklichen Bedürfnisse der Kinder sind. Sonst müßte man nämlich bei jedem Kind individuell entscheiden und Eltern müßten ihr Leben eben auch danach ausrichten können, was gut für das jeweilige Kind ist. Das ist aber sowohl politisch als auch wirtschaftlich als auch gesellschaftlich nicht mehr erwünscht. Eltern wird, ideologiegetrieben, heute weisgemacht, es gäbe für Kinder nichts besseres, als möglichst frühzeitig von pädagogisch geschultem Personal, professionell erzogen und gefördert zu werden.
    Frauen sollten sich nur ja nicht mehr auf eine Rolle als Hausfrau und Mutter „reduzieren“ lassen. Schon allein die Verwendung des Wortes „reduzieren“ in diesem Zusammenhang, spricht Bände und zeigt die Geringschätzung für eine Tätigkeit, die essenziell für die Zukunft einer Gesellschaft ist.
    Ich bin grundsätzlich der Meinung, daß sich Frauen auf gar nichts „reduzieren“ lassen müssen. Frauen sollten, gemeinsam mit ihrem Partner, frei entscheiden können, wie sie ihr Familienleben gestalten wollen. Niemand sollte finanziell in Schieflage geraten, weil er sich entschließt, die enorm wichtige Aufgabe der Erziehung der eigenen Kinder selbst zu übernehmen und es ist völlig unerheblich, was Bindungsforscher dazu sagen.
    Mir sagt nämlich mein gesunder Menschenverstand folgendes:
    Wenn ein Kind, daß ab einem Jahr ganztägig in die Krippe gebracht wird, weil beide Eltern Vollzeit arbeiten, anfängt sich aus Kummer die Haare auszureißen, dann wird diese frühe, lange Trennung wohl eher nicht gesund für dieses Kind sein und den Eltern ist dringend anzuraten ihren Alltag so umzugestalten, daß mehr Zeit für ihr Kind bleibt.
    Geht ein Kleinkind morgens fröhlich in die Kita und ist mittags oder nachmittags erschöpft aber zufrieden und erzählt aufgeregt von seinen Erlebnissen, dann ist wohl alles paletti.
    Ist das Kind beim Bringen morgens still und ruhig und beim Abholen ebenso, dann liegt das vielleicht ganz einfach am Wesen des Kindes, es könnte aber auch daran liegen, daß es sich resigniert ins Unvermeidliche gefügt hat. Da wäre ein genaueres Hinschauen sicher nicht verkehrt. Die meisten Eltern kennen ihr Kind gut genug um zu spüren, ob etwas nicht stimmt.
    Ist das Kind nach der Kita völlig aufgekratzt und überdreht, könnte es evtl. daran liegen, daß es vom Trubel, der Lautstärke und der Reizüberflutung, der es tagsüber ausgesetzt war, überfordert ist.
    Man sieht – die Möglichkeiten, wie Kinder auf frühe Fremdbetreuung reagieren können, sind mannigfaltig. Keines gleicht dem anderen. Deshalb lassen sich darüber m.E. auch keine pauschalen Aussagen treffen. Was für das eine Kind gut und richtig ist, ist für das andere eine Katastrophe.
    Mein Fazit: Gebt Eltern die Möglichkeit individuell nach den Bedürfnissen der Kinder frei zu entscheiden, wie sie es familiär und beruflich handhaben wollen. Im Mittelpunkt dieser Entscheidung sollten keine finanziellen Zwänge stehen, sondern ausschließlich das Wohl der Kinder und ihrer Eltern.
    Ich weiß gar nicht, was es da immer so viel drumherum zu theoritisieren gibt.

  2. Marion Ulherr schreibt:

    Eines möchte ich noch hinzufügen:
    Ich stimme Ihren Ausführungen vollunfänglich zu. Mit meinem letzten Satz wollte ich lediglich ausdrücken, daß ich mich nicht des Eindrucks verwehren kann, daß Studien zu diesem Thema manchmal auch sehr von der ideologischen Sichtweise der Verfasser geprägt sind und nicht sein kann, was nicht sein darf.
    Deshalb will ich mich diesbezüglich nicht allein auf die uneinige Wissenschaft verlassen, sondern vertraue auf das, was ich in über dreißig Jahren Berufsleben als Erzieherin mit eigenen Augen gesehen und erfahren habe.

  3. Marion Ulherr schreibt:

    Weil mich dieses Thema immer noch sehr beschäftigt, habe ich mich nochmal näher mit der Bindungstheorie beschäftigt, und ich stimme Ihnen in Ihrer Einschätzung, daß die Vorwürfe der Unwissenschaftlichkeit von Frau Keller absolut ungerechtfertigt sind, zu.
    Mein obiger Kommentar zu Ihren Ausführungen, geht da eigentlich ein wenig am Thema vorbei.
    Mir war es ein Anliegen zu beschreiben, wie unterschiedlich leicht oder schwer es Kindern fällt, mit dem völlig neuen Lebensabschnitt zurechtzukommen, der mit Eintritt in die Kita für sie beginnt.
    Die Stabilität der Beziehung des Kindes zu seinen nähesten Bezugspersonen, in aller Regel die Eltern, ist dafür aber sicher ausschlaggebend.
    Worauf ich eigentlich hinaus wollte, war Folgendes: Ich glaube, egal wie wissenschaftlich fundiert die Bindungstheorie auch sein mag – sie wird unter den derzeitigen gesellschaftspolitischen Verhältnissen kein Gehör finden, weil die Konsequenzen, die man daraus ziehen müsste, nicht erwünscht sind.
    Da interpretiert man lieber um und legt sich die Ergebnisse so zurecht, daß sie zur eigenen Ideologie und Weltsicht passen oder man gibt eigene Studien in Auftrag, die zu einem gegenteiligen Ergebnis kommen.
    Das ist zumindest mein persönlicher Eindruck. Als Laie fällt es mir da oft schwer zu beurteilen, welcher „Experte“ mit welchen Erkenntnissen nun recht hat oder zumindest näher an der Wahrheit dran ist. Und spätestens da verlasse ich mich dann halt doch eher auf das, was ich tagtäglich sehe, erlebe und wahrnehme, und das deckt sich in großen Teilen mit dem, was auch die Bindungstheorie beschreibt.

  4. Marion Ulherr schreibt:

    Was so ein Artikel alles mit einem macht.
    Nach dem ersten Lesen – in relativer Unkenntnis, was die Bindungstheorie eigentlich genau sagt – ich hatte eine grobe Vorstellung – habe ich geschrieben, was mir spontan hinsichtlich meiner früheren Tätigkeit im Kindergarten eingefallen ist. Erst danach habe ich mich noch mal genauer darüber informiert, was „Bindungstheorie“ denn eigentlich genau bedeutet.

    Im Grunde heißt es, kurz gesagt, ja nichts anderes, als daß die sichere Bindung zu einer festen Bezugsperson für Kinder, vor allem in den ersten ein bis zwei Jahren, essenziell für eine gesunde Entwicklung des Menschen ist.
    Dabei dürfen, ja sollen sich sogar, selbstverständlich auch weitere Menschen aus dem näheren Umfeld des Kindes, zur Entlastung der primären Bezugsperson, in den meisten Fällen naturgemäß nun mal die Mutter, um das Kind kümmern.
    Natürlich ist es möglich, daß Kinder, wenn die Mutter, aus welchen Gründen auch immer, nicht zur Verfügung steht, zu einer anderen Bezugsperson eine genauso stabile Bindung aufbauen können.
    In den letzten Jahren habe ich mich, beruflich bedingt, immer stärker mit der Frage auseinander gesetzt, ob es wirklich gut und gesund für die Entwicklung unserer Kinder ist, wenn sie immer früher in Fremdbetreuung gegeben werden. Die Erkenntnisse der Bindungstheorie fließen ja beim Übergang von der familiären zur außerfamiliären Betreuung in Krippe und Kita durchaus mit ein. Da wird bei der Eingewöhnung nach unterschiedlichen Modellen gearbeitet, die eine sanfte, schrittweise Trennung des Kindes von den Eltern hin zu einer Eingewögnung in die neue Lebenssituation und einem Bindungsaufbau zu einer der Erzieherinnen, praktiziert.
    In vielen Fällen klappt das auch recht gut. Dennoch gibt es imner wieder Kinder, die sich sehr schwer mit der Trennung tun, vor allem dann, wenn sie nicht nur wenige Stunden, sondern den ganzen Tag in der Einrichtung verbringen.
    Dann gibt es in unseren Kitas häufige Personalwechsel, bedingt durch Krankheitsausfälle, Urlaub oder Stellenwechsel, so dass Bindungen zwischen Kind und Erzieherin oft jäh unterbrochen werden. Was macht das mit den Kindern? Das wird viel zu wenig berücksichtigt.
    Ich habe mich in einem anderen Fachforum des öfteren kritisch zur allzu frühen Fremdbetreuung geäußert. Fast reflexartig wurde ich dann mit dem Vorwurf konfrontiert, ich würde einem Frauenbild der 50er Jahre anhängen, möchte Mütter „zurück an den Herd“ verbannen und würde einem rückständigen Familienbild anhängen, obwohl ich nie derartiges geäußert habe.
    In meinen Beiträgen habe ich nie explizit von „den Müttern“ sondern immer von „den Eltern“ gesprochen. Ich habe immer differenziert und beteuert, daß ich Krippenvetreuung nicht per se verteufeln will.
    Reflixartig wurde auch immer das Argument ins Feld geführt, es wäre nicht gut für Kinder, wenn sie drei Jahre nur „mit Mutti“ verbringen. Kinder bräuchten doch schließlich soziale Kontakte auch außerhalb der Familie und zu Gleichaltrigen. Als hätte ich je das Gegenteil behauptet.
    Als würden Kinder, wenn sie keine Krippe besuchen, ihr Leben zwangsläufig mit der Mutter in Isolation verbringen.
    Ähnlich verhält es sich m.M. nach auch mit der Kritik an der Bindungstheorie.
    Da werden Behauptungen unterstellt, die in der Bindungstheorie nie geäußert wurden.
    Mir erschließt sich nicht ganz, warum das so ist. Vielleicht liegt es daran, daß eine gewisse Verbindlichkeit nicht mehr zu unserer modernen Lebensweise paßt. Jeder hat nur noch Angst, er könnte etwas verpassen.

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