Wieviele Mütter verträgt der Mensch? (Fh 2000/3)

von Jaqueline Poetschke

Tagesmütter, Tagesstätten, Au-Pairs und Kinderfrauen, Fernsehen und Internet
Testen Sie sich selbst: Ihr zweijähriges Kind muss ins Krankenhaus. In Ihrer Firma steht ein dringender Auftrag an. Wie entscheiden Sie sich?
Sie wollen unbedingt bei Ihrem Kind am Krankenbett sein? – Dann sind Sie nach Auffassung vieler Frauenpolitikerinnen und Autorinnen ein bedauernswertes Opfer der „Ideologie der intensiven Bemutterung“

1. Mutterschaft – eine Ideologie?
Die Preisfrage, die üblicherweise gestellt wird, heißt: „Wieviel Mutter braucht der Mensch?“

2. Es wird nahegelegt, dass die Bemutterung, die enge Bindung von Mutter und Kind, übertrieben sei, ja sogar schädliche „overprotection“ (Überbehütung).
Außerdem sei sie historisch eine neue Erfindung, Folge der modernen Kleinfamilie mit der Mutter im Haus, der „Hausfrau“ im wörtlichen Sinne. Das – so glaubt man – stehe der wahren Emanzipation der Frau im Wege, weil es durchgehende oder zumindest fast durchgehende Erwerbstätigkeit verhindert. Für die Mutterschaft gilt das neue Motto: „Mach‘s kurz, nebenbei und unauffällig“.

In den Medien gibt es zwar viel Anteilnahme für Eltern, deren Kind kurz vor oder nach der Geburt stirbt, oder für die verzweifelten Paare, deren Kinderwunsch sich nicht erfüllt. Man sieht hier, dass Kinder haben und mit Kindern leben ein elementares Bedürfnis ist. Andererseits gilt „ganz normal Kinder großziehen“ als langweilig und nicht erwähnenswert außer zum Muttertag, obwohl es für Millionen von Menschen eine Lebensaufgabe (wenn auch selten die einzige) ist. Familienarbeit wird immer mehr aus dem Bewusstsein verdrängt. Nach wie vor werden Vollzeitfamilienfrauen und -männer in der Statistik nicht als „Tätige“, sondern als „Nichterwerbspersonen“ geführt.

Inzwischen ist sogar der Kochlöffel anrüchig geworden. Ein Kaufhauskonzern plant, in Deutschland 40 „Frauenkaufhäuser“ zu eröffnen. Haushaltswaren werden dort nicht angeboten werden, sondern nur „Artikel, die etwas mit weiblichem (Lebens-)Gefühl zu tun haben“

3. Outsourcing
Die Mutter verschwindet langsam aber sicher. Sogar die alte Feministin Germaine Greer beklagt den fehlenden Respekt vor Müttern in den westlichen Gesellschaften.

4. Die moderne Frau soll die ganztägige und ganzheitliche persönliche Fürsorge für ihr(e) Kind(er) möglichst bald abbrechen und wieder „richtig arbeiten“. Manchmal ist es auch ihr Wunsch oder eine Notwendigkeit. Wenn also die Erziehung von kleinen Kindern auslagern („outsourcen“), dann wohin? Welche Betreuung ist positiv zu sehen und folglich, zwar nachrangig nach den Eltern, aber doch staatlich zu unterstützen?

Das Märchen von der „Qualitätszeit“
Zunächst gilt es aber mit einem Märchen aufzuräumen: Vielfach wird behauptet, es käme nicht auf die Quantität der Zeit an, die man mit seinem Kind verbringt, sondern auf die Qualität. Ein bis zwei Stunden täglich intensive Zuwendung wären wertvoller als ganztägiges einfach miteinander leben. Aber die Realität ist doch, dass der Beruf Kraft und Einsatz fordert. Das ist ja auch ganz positiv zu sehen, auch bei den dafür oft geschmähten Vätern. Dass sie außer Haus nichts leistet, also nach sechs bis acht Stunden ausgeruht ist, wird doch keine Frau behaupten, die ihren Beruf ernst nimmt.

Wer am späten Nachmittag heimkommt ist müde, ja erschöpft, möchte Ruhe und Erholung, nicht intensive Herausforderung durch ein Kleinkind. Auch ist Familie keine Feierabendveranstaltung, sondern eine Lebensgemeinschaft (was sie historisch auch fast immer gewesen ist).

Allerdings sei auch vorneweg gesagt: So ziemlich alles ist besser als eine Mutter oder ein Vater, die oder der bei der ganztägigen Begleitung und Verantwortung für das eigene Kind todunglücklich ist oder aber überfordert, z. B. weil krank, süchtig oder viel zu jung.

„Mir fällt die Decke auf den Kopf“
Junge Mütter sagen oft, dass ihnen „die Decke zu Hause auf den Kopf fällt“. Da ist insofern etwas dran, als Eltern noch nie mit so wenig Unterstützung von außen (Verwandtschaft, Nachbarschaft, kindgerechte Umgebung) Kinder großziehen mussten.

Das Komische ist nur, dass dieser Satz offenbar für die ewig gleiche Decke im Büro einer Firma nicht gilt. Die Ausstattung ist dort oft dürftig, die Kollegen sind auch immer die gleichen, sofern nicht der Computer überhaupt der einzige Kollege ist. Die Frauen leiden also zu Hause eher unter dem Mangel an Anerkennung, an einem Gefühl der Isolation und, ganz entscheidend, unter dem Mangel an (eigenem) Geld als Lohn für ihre Arbeitsleistung. Eine Lösung für die Isolation ist für viele das hervorragende Angebot der Mütterzentren, von denen es inzwischen ca. 400 bundesweit gibt.

5. Ein Gehalt für Familienarbeit würde den ersten sechs Jahren mit dem Kind die finanzielle Grundlage geben. Die gesellschaftliche Anerkennung für die Familienarbeit müssen die Mütter und Väter selbst viel lauter einfordern.

Kompetenz
Sind denn, wie vielfach auch behauptet wird, ausgebildete, professionelle ErzieherInnen besser für unsere Kinder? Ist die Betreuung durch ErzieherInnen in öffentlichen Einrichtungen der elterlichen überlegen? Endlos sind die Klagen über die mangelnde Qualifikation zur Elternschaft. Schulfach sollte das sein, meinen viele. Andererseits gibt es großen Andrang zu Säuglingskursen und Erziehungsvorträgen (vor allem von Müttern). Elementares Wissen über den Umgang mit Kindern scheint zu fehlen und droht immer mehr verlorenzugehen, weil er immer weniger im alltäglichen Leben gelernt wird bei Verwandten, Freundinnen und Nachbarinnen. Immer Neues kommt andererseits hinzu (Computerspiele etc.). So weit so anstrengend für werdende Eltern. Doch ist Professionalität die Lösung?

Die dreizehnte Betreuerin
Bei der Bewertung von Kinderkrippen und Tageseinrichtungen gilt es, drei Dinge gegeneinander abzuwägen: erzieherische Kompetenz, Organisation(smängel) in der Praxis und Verantwortung. Bei der Ausbildung und Qualifikation und der persönliche Eignung der ErzieherInnen muss man sich weitgehend auf das staatliche Ausbildungssystem verlassen. Die professionellste Erziehung kann allerdings in der Praxis zunichte gemacht werden, wenn die betreuenden Personen in der Tageseinrichtung oft wechseln und das Kind dazu noch keine gefestigte Elternbindung entwickeln kann.

6. Die dreizehnte Betreuerin in den ersten drei Jahren wird kaum dazu beitragen, das Kind in seiner Persönlichkeit zu festigen.
Wie wahrscheinlich ist es außerdem, dass diese Betreuerin im Bewusstsein handelt, dass sie auch 20 Jahre später für ihr Handeln geradestehen muss? Das Großziehen von Kindern bedeutet eine Verantwortung fürs ganze Leben…

Kinderbetreuung als neue Dienstleistung
Seit einigen Jahren ist die „Neue Arbeit“ im Kommen. Ein Teil davon ist Kinderbetreuung, Agenturen oder spezielle Firmen vermitteln Dienste von erwerbslosen Personen ohne Schulabschluss und/oder Berufsausbildung, die in einer relativ kurzen Qualifikationsmaßnahme für ihren Einsatz in der Familien vorbereitet werden. Man muss sich doch wundern über den Widerspruch: Sollten nicht gerade nach Auffassung der Kritikerinnen des „Mütterlichkeitswahns“ gerade die professionellen Erzieherinnen das einzig Richtige für unsere Kinder sein? ähnliches gilt auch für Au-Pairs aus dem Ausland. Als zusätzliche Bereicherung des Familienlebens sind sie wunderbar. Alleingelassen mit den Kindern sind sie oft überfordert und müssen auch im Hinblick auf die sprachliche Entwicklung des Kindes kritisch gesehen werden (nicht von ungefähr heißt es „Muttersprache“).

Big Teddy is watching you
In den USA nimmt sie zu, liest man, und bei uns wird sie nicht lange auf sich warten lassen: die überwachung durch mehr oder weniger versteckte Kameras. Eltern können von ihrer Erwerbsarbeitsstelle aus stündlich ins Internet gehen und schauen, was ihre Kleinen machen. Unqualifiziertes Personal zu Hause kann überführt werden durch in Stofftieren verborgene Minikameras.

7. Hier lauert „Big Brother“, auch wenn die Kinder angeblich oder tatsächlich die Kameras bald vergessen. Aufnahmen können aufgezeichnet und verwertet werden. Beruhigender als Kontrolle wären für die Eltern doch zuverlässige Vertrauenspersonen, die sich an Regeln und Absprachen halten. Konstante überwachung kann jedenfalls konstante Bezugspersonen nicht ersetzen.

Erste Wahl: Betreuung (wie) in der Familie
Der Staat hat die Aufgabe, die Rahmenbedingungen für das Großziehen von Kindern zu setzen. Die optimale Lösung ist, nach allem was wir heute wissen: konstant, verlässlich, kleinräumig-familiär. Kurz gesagt: die Familie oder der familienähnlichste Ersatz. Kleine Kinder sind ämlich „konservativ“, wollen meist zu Hause sein, wie übrigens alte pflegebedürftige Menschen auch. Während dies bei alten Menschen respektiert, ja gefördert wird, ist bei Kindern das Gegenteil der Fall. Aber es kommt nicht von ungefähr, dass die öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen Familienähnlichkeit anstreben, d.h. möglichst nicht zu große, altersgemischte Gruppen in überschaubaren, lebensnahen Räumen, am besten neben einem Altersheim, damit die Kinder „Omas und Opas“ haben.

Die Rangfolge in der Familienpolitik muss also heißen: Erst muss Familie(narbeit) möglich gemacht werden.

Die finanzielle Situation der Eltern mit kleinen Kindern ist so zu gestalten, dass niemand gezwungen ist, seine Kinder außer Haus betreuen zu lassen. Dann ist die Delegation an Tagesmütter oder -väter zu fördern, die den Kindern die familienähnlichste Situation bieten. Die Verbesserung des Lebensumfeldes gehört dann auch dazu (z. B. eine intelligentere Mobilität als der heutige Autoverkehr, der den Aktionsradius der Kinder einengt). öffentliche Einrichtungen sollten nachrangig eine Wahlmöglichkeit für Eltern sein.

Das Fernsehen, heute inoffiziell Babysitter Nummer eins, ist ein schwieriges Kapitel. Wie stark kann man Programme reglementieren (Morde und ausgebreitete Sexualpraktiken am Nachmittag etc.) ohne die demokratische Presse- bzw. Medienfreiheit zu gefährden? Besser wäre es allemal, Mutter oder Vater würden öfter energisch auf den Aus-Knopf drücken und die Kinder an die frische Luft schicken oder ihnen etwas Spannenderes anbieten. Dazu müssten Eltern allerdings im Haus anwesend sein.

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