Menschenkinder brauchen intensive Bindung! (Fh 2012/4)

von Gotlinde Kuhn

Viele Säugetiere müssen schon innerhalb weniger Stunden nach der Geburt aufstehen und das Gesäuge finden sowie im Notfall wegrennen können. So kann ein Äffchen nach der Geburt schon greifen, sitzen, krabbeln …
Wir Menschen hingegen kommen extrem unreif auf die Welt. Erst nach der Geburt laufen bei uns besondere Entwicklungsprozesse ab, die uns zu Sprach- und Ku­l­tur­wesen befähigen.(1) Motorik und Wahr­nehmung, Kognition und Psyche (Bindungs­- und Liebesfähigkeit, Urvertrauen) beeinflussen sich nun mal gegenseitig!

Ein Menschenbaby kann saugen, weinen, wimmern, Augen auf- und zumachen, sehen, hören, riechen, tasten und spüren, in die Windel machen … Was es nicht kann: es kann den Kopf nicht allein heben – ohne diese Fähigkeit ist eine weitere Aufrichtung nicht möglich, also muss es das zuallererst lernen. Mit etwa 6 Wochen kann es dann gezielt die Bezugsperson/en ansehen, und es reagiert bei entsprechender Beziehung mit dem ersten Lächeln – das kann nur das Menschenkind so deutlich! Es kann erst ungefähr mit 4 Monaten die Arme in der Körpermitte zusammenbringen. Ohne diese Fähigkeit kann es nicht alleine greifen, zum Beispiel nach Essen, und ebenso wenig Gegenstände in seiner Umgebung, den eigenen Körper oder den eines Gegenübers tastend erkunden. Es muss mit der Zeit üben, sich gegen die Schwerkraft aufzurichten, und seinen Gleichgewichtssinn schulen. Laufen kann es im Durchschnitt mit 15 Monaten.

Um all das zu lernen, braucht das Menschenkind eine intensive Bindung, eine zuverlässige, innige, vertraute Beziehung, viel, viel Liebe.(2) Nach ungefähr sechs Schwangerschafts-Monaten kann das Kind im Mutterleib hören; es hört seinen Vater und bekommt – auch durch die Reaktionen der Mutter auf ihren Partner – Informationen und Gefühle ihm gegenüber. Nach der Geburt kennt das Kind seinen Vater und ggf. die Personen der nächsten Umgebung!

Geschwister sind, neben dem Vater – manchmal sogar mehr als dieser – die ersten Beziehungspersonen. Geschwister haben deshalb eine immense Bedeutung für uns Menschen, das ganze Leben lang. Der deutsche Psychoanalytiker Professor Dr. med. Horst Petri, Arzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie, hat über diese spezielle Form der Geschwisterbeziehung ein Buch geschrieben.(3)
Und nun vergleichen wir diese Erkenntnisse und Notwendigkeiten für eine gesunde Entwicklung der Mutter-Vater-Geschwister-Beziehung mit der Planung in unserer Republik: soundso viele Krippenplätze für das-und-das Alter!

Die Mindestnormen für die Qualität der Einrichtungen sind weder einheitlich noch verbindlich festgelegt. 2011 betrug der Personalschlüssel für 0 – 2-jährige Kleinkinder in Kindertageseinrichtungen bundesweit durch­schnittlich 4,7 Kinder pro ErzieherIn, wobei sich die Zahlen in den einzelnen Bundesländern deutlich voneinander unterscheiden.(4) Dieses BetreuerInnen-Kind-Verhältnis gibt aber nicht die tatsächliche Kapazität für den Umgang mit dem Kind wieder, denn in Zeiten von Urlaub, Fortbildung, Arbeit im Büro, Krankheit etc. ist die Betreuerin / der Betreuer für das Kind nicht präsent.(5)
Auch an diesen Mindeststandards ist noch zu rütteln: Vor einigen Tagen schlug der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, eine „flexi­ble Lösung“ vor, um den Rechtsanspruch auf Fremdbetreuung ab August 2013 für 35 Prozent der unter dreijährigen Kinder zu erreichen: unter anderem könnten die Gruppen kurzfristig vergrößert und gewisse bauliche Standards ausgesetzt werden!(6)

Ich kenne viele ältere ErzieherInnen, die aus ihrem Arbeitsplatz gemobbt werden! Das gibt es auch durchaus in kirchlichen Einrichtungen. Erfahrung und Kritik sind nicht gefragt. Die dringend gebrauchten neu einzustellenden ErzieherInnen erhalten außerdem eine geringere Entlohnung als die entlassenen. Mittlerweile beenden nur noch etwa 20 Prozent der männlichen Erzieher ihre Ausbildung, weil sie erkennen, dass sie damit keine Familie ernähren können, wobei das natürlich für die Erzieherinnen im Prinzip auch nicht anders ist.

ErzieherInnen haben eine andere Aufgabe als Eltern; sie können deren Betreuungs- und Erziehungsleistungen zwar ergänzen, aber keinesfalls ersetzen. Man kann Kleinkindern oder gar Säuglingen nicht zumuten, täglich stundenlang auf Bindung und Liebe zu verzichten, weil Mutter und Vater erwerbstätig sein müssen.

Eltern, die ihr Kind selbst betreuen wollen, werden öffentlich lächerlich gemacht, oft auch diffamiert. Dabei leisten sie so wertvolle Arbeit.
In 20 Jahren werden wir „die Früchte ernten“. Auch jetzt merkt man den älteren Schülerinnen und Schülern die seit Jahren zunehmende Mehrbelastung ihrer Eltern an, durch Hektik und Unsicherheit im Berufsleben, Geldsorgen, Zukunftsängste, auch im Hinblick auf internationale politische und marktwirtschaftliche Missstände … Psychische Krankheiten und neurologische Auffälligkeiten haben zugenommen.
Die Zeit wird kommen, in der man die jetzigen Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen muss.

Ich danke allen Müttern und Vätern, die sich im Alltag geradezu für ihre Kinder zer­reißen und ständig kämpfen müssen, statt für ihre so wertvolle Arbeit im Staat anerkannt und unterstützt zu werden – etwa durch ein Betreuungsgeld in angemessener Höhe, dazu Rentenbeiträge (nicht nur Anrechnungspunkte) in den ersten drei Jahren!

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Die Autorin hat viel Berufserfahrung als Ergotherapeutin im Fachbereich Pädiatrie.

Fußnoten:
(1) Hans-Rainer Duncker: Die Entwicklung der Menschen zu Sprach- und Kulturwesen: Über die Entstehung von Lautsprachen und die Tradierung von Gedächtnisinhalten als entscheidende Mechanismen. In: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen (Hrsg.): Spiegel der Forschung. 28. Jahrgang, Nr. 1, Mai 2011, S. 44-55.
Bernhard Hassenstein: Der biologische Typus des menschlichen Säuglings. Vortragstagung „Theoretische Grundlagen und Probleme der Biologie“ (1987). Veröffentlicht im Internet unter http://bernhard-hassenstein.de/literatur_online/Tragling
(2) John Bowlby: Frühe Bindung und kindliche Entwicklung. 5. Auflage. München: Ernst Reinhardt 2005 (Erstausgabe: Child Care and the Growth of Love. Harmondsworth: Penguin Books 1953)
(3) Horst Petri: Geschwister – Liebe und Rivalität. Die längste Beziehung unseres Lebens. 1. Neuausgabe Kreuz Verlag, Freiburg 2012. ISBN 978-3-451-61155-1
(4) Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 090 vom 13.03.2012: Betreuer-Kind-Verhältnis 2011 in Kindertageseinrichtungen leicht verbessert.
Im Internet zu finden unter https://www.destatis.de
(5) Susanne Viernickel; Stefanie Schwarz: Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung – Wissenschaftliche Parameter zur Bestimmung der pädagogischen Fachkraft-Kind-Relation. Expertise im Auftrag der Herausgeber: Der Paritätische Gesamtverband, Diakonisches Werk der EKD e. V., Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (2., korrigierte Auflage, August 2009)
Im Internet zu finden unter www.gew.de
(6) Handeslblatt online (6.11.2012): www.handelsblatt.com/politik

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