von Johannes Resch
Die Welt steht vor zwei entgegengesetzten Problemen: Einerseits gibt es immer noch – besonders in Afrika und anderen Entwicklungsländern – einen erheblichen Geburtenüberschuss, der nicht nur die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dieser Länder sondern den ganzen Globus ökologisch überfordert. Andererseits gibt es in vielen entwickelten Ländern, nicht zuletzt in Deutschland, seit Jahrzehnten einen dramatischen Geburtenrückgang, der die Funktionsfähigkeit, ja den Fortbestand der bestehenden Sozialsysteme, die eine leistungsfähige nachfolgende Generation voraussetzen, immer mehr in Frage stellt. So werden die sozial entwickelten Länder zunehmend finanziell überfordert, so dass sie auch über weniger Mittel verfügen, um den weniger entwickelten Ländern strukturell zu helfen.
Nun wäre rein zahlenmäßig durch Wanderungsbewegungen ein teilweiser Ausgleich denkbar. Das trüge aber nicht zur Lösung der Probleme bei, sondern würde sie eher weiter verschärfen: In den Entwicklungsländern wandern dann die Aktivsten ab und lassen die Hilfsbedürftigeren zurück. In den Zielländern entstehen z.T. unlösbare Integrationsprobleme, die deren Sozialstaat zusätzlich belasten.
Es ist erstaunlich, dass die Politik auf beiden Seiten nur an den Symptomen herumkuriert. Überlegungen zu den Ursachen dieser Fehlentwicklungen werden kaum angestellt. So fehlen dann auch sinnvolle Lösungsstrategien, sowohl hier wie dort.
Fehlentwicklung in „entwickelten Ländern“
In entwickelten Ländern, und namentlich wieder in Deutschland, wurde oft vorgerechnet und gezeigt, dass unser Sozialrecht zu gewaltigen Nachteilen für Eltern geführt hat. Die mit Kindern verbundenen Aufwendungen waren zu allen Zeiten eine gewaltige Investition. Vor den sozialrechtlichen Eingriffen des Staates kamen sie ganz überwiegend den Eltern zugute, die sich bei Krankheit und im Alter auf ihre erwachsenen Kinder stützen konnten. Wer keine Kinder hatte – aus welchen Gründen auch immer – konnte zunächst viel Geld sparen und es dann ebenfalls für die eigene soziale Absicherung verwenden. Der erforderliche finanzielle Aufwand für die Alterssicherung hatte in beiden Fällen eine vergleichbare Größenordnung.
Beide Formen der sozialen Sicherung, sei es über Kinder oder über Kapital, waren aber mit individuellen Risiken verbunden. Kinder konnten früh sterben und angespartes Vermögen konnte auf verschiedenem Weg verloren gehen. Es war daher sinnvoll, diese jeweiligen Risiken durch Versicherungen abzufedern. Leider geschah das aber, wieder besonders in Deutschland, auf sehr fehlerhafte Weise. Zwar gab es anfangs den Vorschlag (Wilfrid Schreiber), das ursprüngliche leistungsgerechte Modell des familiären Generationenvertrages auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen. Herausgekommen ist dann aber ein extrem unfaires System (besonders durch die Rentenreform 1957): Während die Kosten für Kinder ganz überwiegend bei den Eltern verblieben, wurde die Altersversorgung als wichtigster wirtschaftlicher „Kindernutzen“ an Erwerbsarbeit gebunden, so dass Eltern heute von ihren eigenen Kindern – wirtschaftlich gesehen – weit weniger profitieren als ihre kinderlosen Arbeitskollegen.
Diese Enteignung der Eltern war nicht nur ausgesprochen ungerecht. Sie hat auch alle familienbezogenen Wertvorstellungen im Verlaufe von zwei Generationen gründlich verändert. Das hat sicher wesentlich zum Geburtenrückgang beigetragen, der durch die Erfindung der „Pille“ noch begünstigt wurde. Damit wurden aber nicht nur die Grundlagen der Familie zerstört. Das derart falsch konzipierte Sozialsystem zerstörte auch seine eigenen Grundlagen. Die Folgen zeigen sich seit Jahrzehnten als schleichend zunehmende Kinder- und Elternarmut (gemessen am gesellschaftlichen Durchschnitt) und in Form einer sich abzeichnenden künftigen Altersarmut. – Das einzig wirklich aussichtsreiche Lösungskonzept liegt in einem fairen Sozialsystem, das einerseits Alter und Krankheit sozial absichert, aber andererseits die elterliche Erziehungsarbeit nicht rücksichtslos ausbeutet und erschwert, wie unser gegenwärtiges System. Von einem solchen nachhaltigen Konzept waren und sind aber die Pläne und Maßnahmen aller Bundesregierungen der letzten 60 Jahre weit entfernt.
Die Zielvorstellung der aktuellen Politik ist es, die Eltern bei der Betreuung der Kinder zu „entlasten“ durch ganztägige, staatlich organisierte und hoch subventionierte Betreuungsangebote in Krippen, Kindergärten und Schulen, so dass beide Eltern möglichst voll erwerbstätig sein können. Die Eltern werden zwar (noch) nicht gesetzlich gezwungen, dieses Angebot anzunehmen. Sie werden aber durch wirtschaftlichen Druck immer mehr dazu genötigt, weil ihnen aufgrund der beschriebenen Enteignung durch unser Sozialrecht immer weniger Wahlfreiheit bleibt. So wird das im Grundgesetz festgeschriebene primäre Erziehungsrecht der Eltern auf kaltem Weg ausgehöhlt und die Familie inhaltlich entleert. Nach dem Kindeswohl, über das nach Art. 6 Abs. 2 die Eltern entscheiden sollen, wird seitens der Politik gar nicht mehr gefragt, bzw. es wird passend uminterpretiert. Selbst die mannigfaltigen Warnungen von Fachleuten, die sich mit der Kindesentwicklung beschäftigen, bleiben unbeachtet. Mit einem Wort: Eltern haben eine „Wahlfreiheit“ nach dem Motto „Friss oder stirb“, also keine.
Eine Lösung, die soziale Sicherheit, Schutz der Familie, Elternrecht und Kindeswohl verbindet, ist nur dadurch möglich, dass die finanzielle Entlastung der Eltern nicht an eine staatlich verordnete Erziehungs- und Betreuungsform gebunden wird. Wahlfreiheit der Eltern ist nur erreichbar, wenn den Eltern die freie Entscheidung bleibt, die für Kindererziehung verfügbaren Finanzmittel alternativ zur Eigenbetreuung oder zur Fremdbetreuung ihrer Wahl einzusetzen.
Situation in „Entwicklungsländern“
Nun fällt auf, dass die „Pille“ in den Entwicklungsländern keine vergleichbare Wirkung entfaltet wie in den entwickelten Ländern. Der Grund wird vor allem darin gesehen, dass dort nach wie vor möglichst viele Kinder gewünscht werden, weil nur sie am ehesten eine Absicherung für Krankheit und Alter bedeuten. Es gibt ja dort keine Versicherungen für das Alters- und Krankheitsrisiko.
Bei dieser Ausgangslage stellt sich die Frage, ob der Aufbau eines sachgerechten Versicherungssystems nicht auch „die“ Lösung für die Entwicklungsländer ist: Ein System, das einerseits soziale Sicherheit im Alter unabhängig von eigenen Kindern bietet, aber andererseits Eltern nicht ausbeutet. Das Argument, Entwicklungsländer verfügten nicht über die Mittel, die eine gesetzliche Alterssicherung benötige, kann nicht gelten. Einerseits sind die erforderlichen finanziellen Mittel wegen der nicht bestehenden Überalterung bei Weitem nicht so groß wie in entwickelten Ländern. Zum andern werden die dortigen Alten ja auch heute versorgt – in der Regel durch die eigenen Kinder. Werden die Erwerbstätigen verpflichtet, sich an den laufenden Kosten eines geschaffenen Rentensystems zu beteiligen, werden sie von der Verpflichtung gegenüber ihren eigenen Eltern entlastet. Allerdings müssen Eltern, die wegen ihrer Kinder weniger erwerbstätig waren, von vornherein angemessen ins Rentensystem einbezogen werden. Unser bestehendes System darf also keinesfalls in Gänze als Vorbild dienen, weil es aufgrund der Ausbeutung der Eltern schon den Keim seiner Zerstörung in sich trägt.
Damit zeichnet sich ein ganz neuer Weg für eine Entwicklungshilfe ab, die voraussichtlich weit wirksamer wäre als alles was bisher geschah. Ein wichtiges Ziel muss es sein, das Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern auf humane Weise zu begrenzen, um Stabilität zu ermöglichen und auch die Umweltbelastung im globalen Maßstab einzudämmen. Bisherige Maßnahmen zu diesem Zweck, wie etwa die Förderung von Abtreibungen, sind mit der Menschenwürde nicht vereinbar. Die Entwicklung in Europa hat gezeigt, dass die Motivation zu einer großen Kinderzahl gesenkt wird, wenn eigene Kinder zur persönlichen sozialen Absicherung nicht mehr erforderlich sind. Freilich dürfte das nicht so weit gehen, dass der Kinderwunsch überhaupt erstickt wird. Dann würden auch in Afrika – ebenso wie bei uns – die Grundlagen des sozialen Sicherungssystems wieder zerstört.
Eine solche Entwicklungshilfe würde bedeuten, eine Alterssicherung für alle Erwerbstätigen zu organisieren, die von den Beiträgen aller aktuell Erwerbstätigen gespeist wird, aber auch zuvor nicht erwerbstätige Eltern einbezieht. Die Kosten für diese Entwicklungshilfe wären vergleichsweise gering, weil die Hilfe auf Beratung, Entwicklung einer Versicherungsbürokratie und dazu gehöriger Schiedsstellen für Streitfälle begrenzt werden könnte. Voraussetzung ist allerdings, dass es sich um einen einigermaßen stabilen Staat handelt, wo Reformbemühungen nicht durch eine korrupte Verwaltung unterlaufen werden. Eine wichtige Voraussetzung ist weiterhin, dass ein solches System streng auf die Einwohner eines Staates zu beschränken wäre, da andernfalls jede Reformbemühung durch Zustrom von älteren Menschen aus den Nachbarländern zunichte gemacht würde. Bei Erfolg eines solchen Systems in einem Land wäre eine Vorbildwirkung für andere Länder mit ähnlichen Ausgangsbedingungen zu erwarten, ganz ähnlich wie das in Europa vor etwa 100 Jahren auch der Fall war.
Deutschland wäre hervorragend als Partner für eine solche Entwicklungshilfe geeignet. Es verfügt über eine große Erfahrung mit öffentlichen Versicherungssystemen einschließlich der gemachten Fehler, die bei der Beratung zu vermeiden wären. So wäre eine wirksame Entwicklungshilfe trotz vergleichsweise geringem Aufwand möglich. Es geht hier nicht um Investitionen zum Aufbau neuer Industrien oder einer kostspieligen Infrastruktur mit entsprechenden finanziellen Risiken, sondern um den Aufbau sozialer Stabilität mit Begrenzung des Geburtenüberschusses bei gleichzeitiger Minderung individueller Risiken. Aufgrund der dann immer noch vergleichsweise jungen Bevölkerung, aber eben ohne lähmenden Geburtenüberschuss, würde eine gesunde wirtschaftliche Dynamik begünstigt werden.
Diese Hilfe zur Entwicklung einer tragfähigen Sozialstruktur wäre von einer fairen Handelspolitik zu begleiten. Sie schließt auch eine zeitgleich erfolgende wirtschaftspolitische Strukturpolitik nicht aus. Letztere wird aber nur erfolgreich sein können, wenn es gelingt, den Geburtenüberschuss zu begrenzen. Eine sachgerechte und faire Alterssicherung ist der Königsweg in die Zukunft sowohl für entwickelte Länder als auch für die Entwicklungsländer.