von Gertrud Martin
Noch aus der Zeit, als ich in meiner Heimatregion eine Bürgerinitiative gegen den Bau einer Müllverbrennungsanlage gegründet
und geführt habe, bin ich meinen Mitbürger/innen als „Wiederverwerterin“ bekannt. Sie bringen mir zu meinem einmal jährlich stattfindenden Verschenken-statt-Wegwerfen-Markt alles, was sie nicht mehr brauchen, was ihnen aber zum Wegwerfen zu schade ist. So landen auch große Mengen von Textilien bei mir, die ich nach Bedarf wasche, entflecke, repariere und je nach Bestimmungsort (Altenheim, Krankenhaus, Waisenhaus, Straßenkinder) sortiert verpacke, für unsere örtliche Rumänienhilfe.
Daraus abgezweigt habe ich nun in meinem Kofferraum sechs große Kartons mit Säuglingsausstattung verstaut, die ich der Betreuerin einer Beratungsstelle für Schwangere bringen will. Die junge Frau empfängt mich freudestrahlend. Wir kommen ins Gespräch, und ich verliere allmählich meine Scheu, Fragen zu stellen.
Die Beratungsstelle, um die es sich hier handelt, verteilt keine Scheine, die als „amtlicher Ausweis“ einer erfolgten Beratung den Zugang zu einer Abtreibung eröffnen. Hier wird versucht, es den oft aus Verzweiflung mental ganz durcheinander geratenen Frauen zu ermöglichen, wieder klarer zu denken, ihre Situation zu erfassen und mit ihnen gemeinsam zu überlegen, wie das Beste daraus zu machen sei. Nicht wenige Frauen kommen aber auch nach erfolgter Abtreibung in die Beratungsstelle, um in Depression und großer Not Beistand und Trost zu suchen. Meist können sie ihre Trauer mit niemandem sonst teilen.
„Gleich am Anfang eines Gesprächs muss ich genau hinhören, um zu wissen, woran ich bin“, erzählt mir die sympathische Betreuerin. „Wenn die Schwangere sagt: „Ich WILL das Kind nicht haben“, weiß ich, dass meine Hilfsangebote wenig Gehör finden werden. Wenn es aber heißt: „Ich KANN das Kind nicht haben“, ist klar, dass es noch Chancen gibt. Dabei hat häufig, bevor eine Frau in die Beratungsstelle kommt, der Partner ihr schon klargemacht, dass er keinesfalls bereit ist, den – auch dank des Erwerbseinkommens der Frau – einigermaßen gesicherten Lebensstandard des Paares/der Familie einzutauschen gegen ein ungeplantes Kind. Mit dieser klaren Vorgabe überlassen diese Männer die Letztentscheidung großzügig der Frau.“
Auf der Heimfahrt komme ich sehr ins Grübeln. Noch nie ist mir so klar geworden, was mit der von unserem Verband vielfach beschworenen „Wahlfreiheit“ tatsächlich gemeint ist. Keine Sekunde habe ich je zögern müssen, mich von Herzen zu freuen, wenn sich in unserer Familie Nachwuchs ankündigte. Mein Mann verdiente genug, es gab Haus, Garten und liebe Großeltern. Für Frauen, die ihr ungeborenes Kind „umbrachten“, hatte ich null Verständnis.
Nun habe ich eine Vorstellung davon bekommen, dass es für sie schlicht um die Wahl zwischen Leben und Tod geht und ganz persönlich darum, Mutterglück erleben zu dürfen oder Schuld auf sich zu laden. Ein Papier mit aufgelisteten Fallbeispielen, das ich aus dem Beratungsbüro mitgenommen habe, zeigt die ganze Bandbreite von Frauenschicksalen, denen mit §§ 218, 219 nicht einmal ansatzweise Genüge getan ist.
Zum Thema Abtreibung (1) hat der dhg-Vorstand vor gut 20 Jahren einen Minimalkonsens erarbeitet, der auf der JHV am 28.09.1991 in Düsseldorf als Resolution verabschiedet wurde. Unter dem Titel: „Lohn für Familienarbeit statt Strafverfolgung bei Abtreibung“ erschien diese Resolution in der Verbandszeitung (2) – sie ist aktueller denn je.
Darüber, dass allein die betroffene Frau zu entscheiden hat, ob sie ein Kind haben will oder nicht, lässt sich überhaupt nicht streiten. Wofür wir aber entschieden kämpfen müssen, ist die echte Wahlfreiheit. Die Frage: „Wie gehen Gesellschaft und Politik mit den Müttern um, und wie wird deren zukunftssichernde Arbeit honoriert?“ muss immer neu und immer dringlicher gestellt werden.
Fußnoten:
1 In den 1990er Jahren war die Diskussion um den § 218 aktuell, weil für die deutsche Einheit eine einheitliche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch notwendig war. Bis dahin galten im jeweiligen Strafgesetzbuch (DDR: § 153; BRD: § 218) eigene Vorschriften. Im Einigungsvertrag vom 31.8.1990 wurde dann festgehalten, dass bis Ende 1992 eine Regelung zu treffen sei, „die den Schutz vorgeburtlichen Lebens und die verfassungskonforme Bewältigung von Konfliktsituationen schwangerer Frauen (…) besser gewährleistet, als dies in beiden Teilen Deutschlands derzeit der Fall ist.“
2 dhg Rundschau 4/1991, S. 1. Vollständiger Wortlaut der Resolution: „Für den Schutz des Lebens“. Einen Nachdruck erhalten Sie bei der Materialstelle.