Ist Justitia blind? (Fh 2015/3)

von Gertrud Martin

Als Kinder haben wir gelernt, dass die allegorische Figur der Justitia eine Augenbinde trägt, weil sie ohne Ansehen der Person Gerechtigkeit übe.

Heute gewinnen Klageführende immer öfter den Eindruck, dass die Augenbinde die Gerichtsbarkeit am Erkennen der Wahrheit hindert und ihr hilft, Urteile zu vermeiden, die der herrschenden Staatsideologie zuwiderlaufen würden. Diese Erfahrung musste nun auch unser Verband mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg machen: Wir hatten die Beschwerde einer Mutter gegen das sie diskriminierende deutsche Elterngeldgesetz unterstützt. Die Beschwerde wurde ohne inhaltliche Begründung abgewiesen, nachdem zuvor schon das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Beschwerde „nicht zur Entscheidung angenommen“ hatte.

Wer die Entwicklung der letzten Jahre verfolgt hat, stellt fest: Nicht nur in den Unternehmen und in der Politik, sondern auch in der Justiz sind zunehmend Mandate und leitende Ämter an Menschen vergeben, die persönlich keine Verantwortung für eine Familie tragen. Sie haben meist das „Karrierehindernis Kinder“ vermieden, maßen sich aber an, durch Gesetze und deren elternfeindliche Auslegung Mütter und Väter immer mehr zu bevormunden. Besonders das Einfühlvermögen in die Situation der Mütter scheint vollkommen verloren gegangen zu sein.

Während die letzten Mütter unsere letzten Kinder aufziehen, gelangten Kinderfreie auf dem „Marsch durch die Institutionen“ zu den Hebeln der Macht. Als glühende Vertreter_innen des Gender Mainstreaming, allein per Gleichstellung in der Erwerbsarbeit, bilden sie Netzwerke, um sich gegenseitig bei Ämterbesetzungen nach vorne zu puschen und um endlich mit der traditionellen Familie aufzuräumen: Eltern haben möglichst in Vollzeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, während ihre Kinder rund um die Uhr in Krippen, Kindergärten, Horten und gebundenen Ganztagschulen untergebracht sind. Unter dem beschönigenden Schlagwort „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ wird Familie ausgelagert, und wir erleben, dass ihr zunehmend der in Art. 6 des Grundgesetzes garantierte „besondere Schutz der staatlichen Ordnung“ verweigert wird.

Noch 1998 stellte das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil klar: „… Neben der Pflicht, die von den Eltern im Dienst des Kindeswohls getroffenen Entscheidungen anzuerkennen und daran keine benachteiligenden Rechtsfolgen zu knüpfen, ergibt sich aus der Schutzpflicht des Art. 6 Abs. 1 GG auch die Aufgabe des Staates, die Kinderbetreuung in der jeweils von den Eltern gewählten Form in ihren tatsächlichen Voraussetzungen zu ermöglichen und zu fördern. Die Kinderbetreuung ist eine Leistung, die auch im Interesse der Gemeinschaft liegt und deren Anerkennung verlangt. Der Staat hat entsprechend dafür Sorge zu tragen, dass es Eltern gleichermaßen möglich ist, teilweise und zeitweise auf eine eigene Erwerbstätigkeit zugunsten der persönlichen Betreuung ihrer Kinder zu verzichten, wie auch Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden….“ (vgl. BVerfGE 99, 216, S. 234).

Das Personal, das seit 1998 in Karlsruhe auf den Richterstühlen Platz genommen hat, schert sich offenbar einen feuchten Kehricht um diese seither „verbindliche Rechtsprechung des BVerfG“. Und auch auf der Ebene der EU verkommt Familie zur vernachlässigbaren Nebensache.