Brief an Bundeskanzler Gerhard Schröder zum EU-Frühjahrsgipfel

Schreiben der Bundesvorsitzenden vom 12. März 2005
Betrifft: Frühjahrsgipfel 22. und 23. März 2005

Soziale Nichtregierungsorganisationen aus ganz Europa fordern die politische Führung auf, unbedingt an ihrem Engagement für eine ausgewogene Lissabonner Strategie festzuhalten, die das Ziel des sozialen Zusammenhaltes einschließt.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
die Europäische Union hat eine wichtige Entscheidung über ihre Zukunft zu treffen.
Am 22. und 23. März werden Sie zusammen mit den 24 anderen Staats- und Regierungschefs entscheiden, ob sie Kommissionspräsident Barrosos Plan für Europa unterstützen, wie er ihn in seiner Mitteilung vom 2. Februar mit dem Titel "Zusammenarbeit für Wachstum und Arbeitsplätze: Ein Neubeginn für die Strategie von Lissabon." beschrieben hat.

In dieser Mitteilung schlägt Herr Barroso vor, dass die EU nunmehr zwei Hauptziele verfolgen soll: Wachstum und Arbeitsplätze. Als soziale NRO erkennen wir zwar die Wichtigkeit dieser beiden Ziele an; jedoch sind wir entsetzt darüber, dass die Ziele für den sozialen Zusammenhalt nicht länger den gleichen Stellenwert genießen sollen. Mehr und bessere Arbeitsplätze führen nicht automatisch zu höherem sozialen Zusammenhalt, wenn hierfür keine entsprechenden politischen Maßnahmen ergriffen werden.

Die im Jahr 2000 verabschiedete Strategie von Lissabon war ursprünglich in der Tat ein Schritt nach vorn. Durch die Formulierung sich gegenseitig verstärkender Ziele in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Umwelt haben die politischen Entscheidungsträger für die EU ein positives und langfristig angelegtes Projekt entwickelt, das den Wünschen ihrer Bürger entspricht.

Für soziale NROs ist es nicht hinnehmbar, dass sich die Kommission von derart entscheidenden Zusagen der EU, die auf höchster Ebene getroffen wurden, so einfach und ohne vorausgegangene öffentliche Diskussion verabschiedet. Was Kommissionspräsident Barroso hier vorschlägt, wird diejenigen Mechanismen schwächen, welche die nötige Koordinierung von Sozial- und Wirtschaftspolitik sicher stellen sollten – Mechanismen, die von der Kommission selbst eingerichtet wurden.

Konkret bedeutet dies, dass all die Lissabonner Ziele für einen größeren sozialen Zusammenhalt, einen angemessenen sozialen Schutz und soziale Eingliederung von den politischen Tagesordnungen unserer Staats- und Regierungschefs verschwinden und dadurch zu "Satellitenprozessen" werden, die auf einer viel niedrigeren Ebene verhandelt und somit auch einen niedrigeren Stellenwert haben werden. Ohne all die Mechanismen, die innerhalb der Lissabonner Strategie eine kohärente Herangehensweise sicher stellen, sind die Mittel, die der EU für das Erreichen eines verstärkten sozialen Zusammenhaltes zur Verfügung stehen, stark geschwächt.

Die Lissabonner Strategie sollte eine Strategie sein, die den Zugang aller EU BürgerInnen zum Europäischen Sozialmodell sicher stellt. Daher fordern wir Sie dringend auf, politische Vision und Führungsstärke zu zeigen und den sozialen Pfeiler in der erneuerten Strategie von Lissabon auch in Zukunft beizubehalten. Wir sind der festen überzeugung, dass in diesem Jahr der Referenda über die Verfassung der EU die Ziele eines größeren sozialen Zusammenhaltes und das Wohlergehen aller für die BürgerInnen wichtiger denn je sind. Im Anschluss an den Frühjahrsgipfel werden BürgerInnen in ganz Europa ihre nationalen Regierungen zur Rechenschaft ziehen und wissen wollen, was sie dafür getan haben, dass die EU den Schutz und die Weiterentwicklung des Europäischen Sozialmodells sicher stellt. Die Entscheidungsträger der EU tragen die Verantwortung, zu ihren Versprechungen und Zusagen zu stehen und den BürgerInnen klare Antworten zu geben.

Wir danken Ihnen, dass Sie unsere Anliegen berücksichtigen und erwarten gerne Ihre Antwort.
Diesen Brief an Sie setzen wir ins Internet und würden Ihre Antwort, wenn Sie Ihr Einverständnis erteilen, dazu stellen.

Mit freundlichen Grüßen

gez. Helga Vetter
Bundesvorsitzende

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