von Romy Richter aus der fh 1/25
Traut man der öffentlichen Berichterstattung oder lauscht man den Warnrufen von Pädagogen im Schulbetrieb, gewinnt man den Eindruck, Kinder würden immer aggressiver. Wie kommt das?
Ich möchte zumindest einen Erklärungsversuch anbieten: Frust als Aggressionsauslöser. Für das menschliche Aggressionsverhalten gilt laut Prof. Dr. Gordon Neufeld eine allgemeingültige Formel: Jeder Aggression (egal, ob sie sich nach außen oder nach innen richtet, egal, ob beim Erwachsenen oder beim Kind) ist Frust vorausgegangen.
Bei kleinen Kindern ist das nahezu an der Tagesordnung – nämlich immer dann, wenn etwas (noch) nicht gelingt wie es soll, wenn etwas nicht erlaubt bzw. von den Erwachsenen explizit verboten wird. Die Welt der Kleinen steckt voll natürlicher Grenzen, gegen die sie machtlos sind und die sie deshalb stark frustrieren können. Abhängig vom Temperament eines Kindes reagiert es dann mehr oder weniger aggressiv: mit Schreien, Treten, Schlagen, Sachenwerfen oder gar Zerstörung.
Umgang mit kindlicher Aggression: Es lohnt sich für Erwachsene, hinter die Fassade des „unmöglichen“ Verhaltens zu schauen und zu entdecken, was den Frust eigentlich ausgelöst hat. Denn: bloßes Schimpfen nützt oft nicht – im Gegenteil: es verursacht möglicherweise den nächsten Frust, verstärkt also den Ärger im Kind und verzögert dessen gesamten Ausbruch. Dabei wäre es entscheidend, dem Kind aus seiner Frustrationsschleife heraus zu helfen. Das gelingt denjenigen Erwachsenen am besten, die ein Kind mit viel Empathie auffangen und echtes Verständnis für dessen Ärger zeigen können. Die Kinder werden sich an deren Schulter ausheulen, sich erholen und neu orientieren. Das heißt: sie finden sich mit einer Grenze oder einer Ausweglosigkeit ab und beschäftigen sich dann wieder anderweitig. Es handelt sich hierbei um einen ganz normalen Lernprozess.
Ungestillte Bindungsbedürfnisse als Frustauslöser: Nun ist es das größte Bedürfnis kleiner Kinder, an jemanden gebunden zu sein, der sie beschützt, versorgt, liebt, anleitet, wertschätzt, ermutigt usw. Folglich entsteht bei ihnen der größte Frust, wenn sie von ihren geliebten Bindungspersonen getrennt sind – beispielsweise während der Zeit in Kita oder Schule. Hier vermute ich einen möglichen Zusammenhang zwischen zunehmend aggressiven Kindern und dem massiven Kita-Ausbau in den letzten Jahren, der forcierten Krippen- und Ganztagesbetreuung, dem Personalmangel in den Einrichtungen sowie den generellen Bestrebungen, Eltern durch sog. „Fachkräfte“ zu ersetzen. Ungenügender Ersatz durch Fachkräfte: Diese Marschrichtung hat für viele Kinder zur Folge, dass sie ihre Eltern öfter vermissen müssen als ihnen lieb ist und die Fachkräfte es unter den gegebenen Umständen in den Einrichtungen nicht schaffen können, die Bindungsbedürfnisse adäquat zu stillen. Nicht wenige U3-Erzieherinnen werfen das Handtuch, weil sie ihren eigenen Ansprüchen an die Betreuung der Kinder nicht gerecht werden können. Dabei hätte jedes Kind theoretisch die Chance, sich ersatzweise an eine Erzieherin zu binden, doch praktisch sind seinen Bestrebungen Grenzen gesetzt: es mangelt an uneingeschränkter Aufmerksamkeit und Feinfühligkeit bei der Betreuung, sowie an Kontinuität. Die kindlichen Versuche, Bindung aufzubauen, werden immer wieder durch Krankheit und Urlaub unterbrochen.
Verschiedene Facetten von Trennung: Nicht nur die bloße Abwesenheit von Papa und Mama, die möglicherweise viel zu oft und viel zu lang weg sind, frustriert. Trennung hat für ein Kind noch viel mehr Gesichter und muss viel umfassender verstanden werden: Die Art und Weise wie Kinder sich an ihre innigsten Bezugspersonen binden, variiert nämlich und ändert sich im Laufe ihrer Kindheit. Der Frust, den ein Kind erlebt, wenn seine Bedürfnisse nicht auf die jeweilige Weise befriedigt werden, wirkt genau wie das unmittelbare Getrenntsein: möchte es der Mama eigentlich ähneln und ihr nacheifern, so wird es immer dann frustriert und verletzt, wenn es merkt, dass es durch seine Andersartigkeit von ihr abgelehnt, nicht verstanden und vielleicht sogar verhöhnt wird. Strebt es nach Zugehörigkeit, wirkt beispielweise der Ausschluss aus einer Gruppe/ Familie frustrierend. Das kann passieren, wenn ein Kind bei einem Kita- oder Familienausflug nicht dabei sein darf oder wenn es weggeschickt wird, weil es etwas falsch gemacht hat. Etliche Disziplinierungsmaßnahmen verletzen das kindliche Grundbedürfnis nach Verbindung unmittelbar: Auszeiten verhängen, das Kind in ein anderes Zimmer schicken, es vor die Tür stellen, ihm etwas wegnehmen, das ihm wichtig ist, es vor anderen bloßstellen, Vorwürfe machen, mit Liebesentzug drohen u.v.m. Wenn das Maß voll ist: Übersteigt die Summe all dieser möglichen Trennungsmomente ein für das Kind erträgliches Maß, dann reagiert es in mehrfacher Hinsicht: es resigniert oder macht seinem Ärger Luft- in jedem Fall aber panzert es sein Herz gegen den unerträglichen Schmerz, von geliebten Menschen immer wieder enttäuscht und abgewiesen zu werden. Dies tut es nicht bewusst oder willentlich, sondern intuitiv aus einem überlebensnotwendigen Schutzmechanismus heraus. Der Haken daran ist, dass ein Mensch sich nicht ausschließlich vor verletzlichen Gefühlen schützen kann, sondern auch angenehme Gefühle wie Freude, Neugier und Gelassenheit „dank“ des Panzers nicht mehr empfindet. Diese Gefühlstaubheit gilt dann generell.
Mobbing leicht gemacht: Mobbing ist eine mögliche Folge dieser Gefühlstaubheit – ein Phänomen, das wir heute ebenfalls vermehrt beobachten: wenn das Kind bzw. der Jugendliche nicht fühlen kann, was sein Fehlverhalten im Mitmenschen auslöst und wie andere dadurch verletzt werden, fällt es entsprechend leicht, besonders fies zu sein. Betroffene Kinder und Jugendliche wirken cool, abgebrüht und durch nichts berührbar. Sie weinen nicht und zeigen auch sonst kaum Emotionen (weil sie sie nicht fühlen). Sie versuchen sich und ihren fehlenden Selbstwert aufzurichten, indem sie andere niedermachen. Aber eigentlich verlangen sie nach Bindung, nach dem Erleben, angenommen und für jemanden wertvoll und besonders zu sein, dazuzugehören und verstanden zu werden.
Wie die Bindung bei Aggression wirkt: Kinder lernen normalerweise im Kontext des sicheren Gebundenseins und am Vorbild ihrer Bindungsperson nach und nach immer besser mit alltäglichem Frust umzugehen: sie entdecken, ob und wann sie Frustauslöser umgehen oder wie sie an einer frustrierenden Situation konstruktiv etwas ändern können. Sie lernen unausweichlichen Frust zu ertragen und sich dabei mehr und mehr zu beherrschen. Geschieht dies nicht oder ist die Bindungsperson selbst immer wieder Auslöser für Frust, bleiben frühkindliche, unreife Muster aggressiver Überreaktionen und ein erhöhtes Maß an Gewaltbereitschaft auch im Erwachsenenalter bestehen. Namhafte Beispiele: Meiner Meinung nach gibt der Film „Systemsprenger“ dieser Theorie und diesem möglichen Zusammenhang vollkommen recht. Ebenso möchte ich auf das eindrückliche Zeugnis des sog. „Bibelrauchers“ Wilhelm Buntz hinweisen, der als Kind von seiner Mutter ausgesetzt und vom Vater ins Heim abgeschoben wurde. Als Jugendlicher ist er extrem gewaltbereit und kaltblütig, fährt einen Mann tot und landet schließlich im Jugendarrest. Sein Buch ist sehr zu empfehlen. Fazit: Soll auffallend aggressiven Kindern und Jugendlichen geholfen werden, lohnt es sich zu hinterfragen, inwiefern die Vernachlässigung von frühen Bindungsbedürfnissen durch Eltern und/ oder pädagogischen Fachkräften für das Verhalten verantwortlich sein könnte. Denn wird der jeweilige Bindungshunger nachträglich adäquat gestillt, ist zu erwarten, dass auch die Aggressionen nachlassen.
Mehr von Romy Richter: www.bindung-verstehen.de