Ist Misstrauen berechtigt? von Beri Fahrbach-Gansky
Das „Aktionsbündnis Kinderrechte ins Grundgesetz“* fordert, Kindergrundrechte gesondert im Grundgesetz festzuschreiben. Als ersten Punkt formuliert es ein Recht des Kindes „auf Förderung seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten zur bestmöglichen Entfaltung seiner Persönlichkeit“ und als zweiten „die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte des Kindes.“
Es sind mehrere Punkte, die mich kritisch und stutzig machen:
1. Warum soll ausgerechnet den „körperlichen und geistigen Fähigkeiten“ soviel Bedeutung beigemessen werden? Die Auswahl erscheint willkürlich. Übergewicht, Bewegungsmangel, z.B. erzwungen durch Schule, mangelnde Bindung und Armut sind Entwicklungsrisiken und sie schränken die „körperlichen und geistigen Fähigkeiten“ stark ein Studien in 1,2,3) . Das heißt, Förderung bzw. Bildung kranken schon daran, dass die Grundvoraussetzungen dafür nicht gegeben sind. Daher wäre es doch sinnvoller, ein Recht auf diese „basics“ im Grundgesetz festzulegen, z.B. Schutz vor krankmachendem Essen, Schutz der Familien vor finanzieller Ausbeutung, ein Recht „auf die Verfügbarkeit einer Bindungsperson“ (wie es unser Verband vorschlägt)…. Abgesehen davon, dass erst einmal eine Diskussion von Nöten wäre, was überhaupt im Grundgesetz festzulegen ist, ist es offensichtlich: Es soll nicht um die Wahrung der Grundvoraussetzungen für Entwicklung oder gar um das „Kindeswohl“ gehen, sondern es geht um ganz bestimmte, handfeste, andere Interessen.
Es wäre sicher nicht im Sinne aller Wirtschaftsbereiche, dass ausgerechnet diese Fähigkeiten ins Grundgesetz aufgenommen werden. Z.B. fehlen 36.000 Pflegekräfte und Nachwuchs in Handwerk und Industrie. Da würde es mehr Sinn machen, ein „Recht auf Förderung sozialer und handwerklicher Fähigkeiten“ festzuschreiben. Aber sollen jetzt x-beliebige Gruppen verlangen können, dass die Förderung von Fähigkeiten, die ihren Interessen entsprechen, als Grundrechte aufgenommen werden?
2. Nach dem bisher Gesagten wird deutlich: Es sollen Werte festgeschrieben werden, die weit über das hinausgehen, was in den Grundrechten direkt und indirekt als allgemein verbindlich festgeschrieben ist. Wie verträgt sich das mit den anderen Grundrechten? Aber es ist nicht nur wichtig, die offensichtliche Wertung in den angestrebten Kinderrechten zu diskutieren, auch die versteckten, subtil vorausgesetzten Werte müssen vordringlich auf den Tisch gebracht werden. Zum einen wird das Kind zu einer Art öffentlichem Gut, einer Art Ressource, von der die ganze Gesellschaft profitieren soll („Entfamilisierung“ und „Institutionalisierung“ des Kindes 4) ). Damit wird es in seiner Würde verletzt, denn für die war bisher die Familie der Garant. Zum anderen wird das Kind, selbst das unter sechsjährige, als unabhängiges Individuum betrachtet und behandelt (Kind als „elternunabhängige soziale Kategorie“ 4) ). Das widerspricht sämtlichen biologischen Gegebenheiten, entspricht aber wieder den Vorstellungen bestimmter Interessengruppen. Dadurch werden die Abhängigkeit des Kindes und die Bedeutung und Verantwortung der Eltern für ein Kind stark heruntergespielt und in ihrer Wertigkeit herabgesetzt.
3. Die Vorstellungen davon, wie sich ein Kind am besten entwickelt, schwanken zwischen zwei verschiedenen Polen: Ein Kind ist ein unbeschriebenes Blatt, von Natur aus „böse“ oder dumm und muss daher komplett „erzogen“, „gefördert“, also vom Erwachsenen geformt werden. Oder auf der anderen Seite: Ein Kind eignet sich selber an was es braucht, fördert sich also selber – vorausgesetzt die Erwachsenen sorgen für eine gute Bindung und Geborgenheit und eine entsprechende Umgebung. Die Gehirnforschung bestätigt sehr eindrücklich Letzteres: Das kindliche Gehirn ist „selbstorganisierend“ und „adaptiv“, d.h. es lernt von alleine 2,5) . Eine Formulierung wie „Recht auf Förderung seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten…“ macht ja nur Sinn, wenn man voraussetzt, dass das Kind das überhaupt nötig hat. Diese Formulierung impliziert auch, ohne diese Förderung könne das Kind seine „Persönlichkeit“ nicht „bestmöglich entfalten“.
Nun ist uns im Grundgesetz Meinungsfreiheit garantiert. Das heißt doch, dass eine Meinung, auch Werte oder eben ein Menschenbild nicht von vornherein im Grundgesetz festgeschrieben werden dürfen. Aber genau das wird angestrebt! Damit würde indirekt eine bestimmte, bereits widerlegte Vorstellung, wie Kinder „ticken“ und damit zu behandeln seien, im Grundgesetz festgelegt. Folglich bedeuteten solche neuen Artikel im Grundgesetz nicht etwa eine Erweiterung kindlicher Rechte, als die sie uns verkauft werden, sondern eine starke Einschränkung gegenüber einem „Recht auf freie Entfaltung“. Eine zeitgemäße, wissenschaftlich abgesicherte Formulierung müsste eher so lauten: „Jedes Kind hat das Recht auf Bindung, auf finanzielle Existenzsicherung, auf den Freiraum und eine entsprechende Umgebung, um seine körperlichen, geistigen und psychischen Fähigkeiten frei entfalten zu können.“ Das ist aber offensichtlich von denen, die vorgeben das „Bestmögliche“ für Kinder zu wollen, gar nicht gemeint.
4. Kinder sind aber keine Bodenschätze oder Computer. Sie lassen sich nicht beliebig optimieren, mit Daten und Wissen füllen und dann gewinnbringend nutzen. Und je weniger artgerecht sie behandelt werden, desto mehr entwickeln sie nicht etwa ihre Persönlichkeit, sondern Störungen und psychische Erkrankungen.
5. Was weiter höchst verdächtig ist: Wer bestimmt denn, was unter dem Begriff „Förderung“ und unter „bestmögliche Entfaltung seiner Persönlichkeit“ zu verstehen ist? Der 100. Geburtstag des Widerstandskämpfers der Gruppe „Weiße Rose“, Hans Scholl, wird in diesem Jahr gefeiert. Er wurde im Dritten Reich in den Jugendorganisationen Hitlers ganz gewaltig „körperlich, geistig und sittlich“ 6) gefördert – aber eben im Sinne des Nationalsozialismus. Viele Eltern glaubten, die nationalsozialistische Erziehung diene der „bestmöglichen Entfaltung seiner Persönlichkeit“. Anfangs begeistert, erkannte Hans Scholl zunehmend, dass sein Verständnis sich sehr stark von dem der Regierung unterschied. Und jetzt soll unser Grundgesetz mit griffigen, hohlen Floskeln aufgefüllt werden, die beliebig interpretierbar sind.
6. Warum diese unklaren Begriffe? Mit dem zweiten Artikel erhalten wir dazu einen Hinweis: „Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte des Kindes.“ Soso! Gerade durch die Beschäftigung mit Sophie und Hans Scholl läuft mir da ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ein Kind kann ja seine Rechte weder selber begreifen noch durchsetzen. Derjenige, der diese Rechte festlegt, ernennt sich auch zum Wächter darüber! Wenn man davon ausgeht, dass er auch selbstverständlich die Deutungshoheit für sich beansprucht, so ist das eine Art Blankoscheck, den sich der Staat und seine Einflüsterer selber ausstellen. Es soll also eine Vorstellung davon, wie ein Kind sich entwickle, nämlich durch „Förderung“, zementiert werden. Im Umkehrschluss wird dann jeder, der Kinder nicht in diesem Sinne behandelt, zu jemandem, der Kinderrechte verletzt. Dem Generalverdacht gegenüber Eltern steht damit Tür und Tor offen. Ich frage mich, wozu es diese neuen Artikel überhaupt braucht, wo doch mit den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ (GG Art. 1.2) auch das Kindeswohl abgedeckt ist? Ich habe den Verdacht, dass die Kinderrechte vor allem auch ein Vorwand sind, Antidemokratisches ins Grundgesetz einzuschleusen: Mehr Macht dem Staat, weniger dem Volke, am wenigsten den Eltern. Das wäre eine Instanz weniger, die Rechte, nämlich die eigenen Elternrechte und stellvertretend die ihrer Kinder, einklagen kann. Wer sich den Zugriff auf die Kinder sichert, sichert sich die Macht.
7. Wir haben durch die deutsche Schulpflicht eigentlich schon den einmaligen totalen Zwang zur „Förderung“, auch noch in einer genau festgelegten Weise. Der Staat missbraucht das zunehmend, um verschiedenste Interessengruppen zu bedienen. Schon hier tut er sich keinesfalls als Wächter einer „bestmöglichen Entfaltung (kindlicher) Persönlichkeit“ hervor, sondern ignoriert nahezu komplett Erkenntnisse aus Entwicklungs- und Lernpsychologie und Neurobiologie. Was soll da ein „Recht auf Förderung“ noch für einen Sinn machen? Ich kann mir das nur so erklären, dass damit gezielt die unter Sechsjährigen ins Visier genommen werden. Systematisch, ohne sachliche Grundlagen hat man uns jahrzehntelang eingeredet, dass nur Kindergarten und Krippen die Kinder „fördern“ könnten und Eltern damit überfordert, unfähig oder egoistisch seien. So ist der Boden für entsprechende Gesetzesänderungen bereitet. Keine abweichenden Vorstellungen und Rechte von Eltern würden dann mehr einer Zwangsbeglückung durch Krippen- und Kindergartenpflicht im Wege stehen.
Und da bin ich bei einem Punkt, den schon viele vor mir recherchiert und ausgeführt haben 7,8,9) . Wirtschaftsverbände bestimmen wo die Reise hingeht, allen voran die OECD („starting strong“, 4) ) und Bertelsmann mit ihren Studien und Richtlinien. Erschreckend ist, wie einfach sich Medien, Verbände und Volksmeinung manipulieren lassen. Fast alle Parteien haben diese fragwürdigen Richtlinien nahezu kritik- und -diskussionslos und z.T. wörtlich übernommen. Damit entpuppen sich diese angeblichen „Kinderrechte“ nur als ein weiterer Baustein, durchdacht und geplant, um ohne demokratische Meinungsbildungsprozesse und auf Kosten von Demokratie und Freiheit die wirtschaftlichen Interessen bestimmter Gruppen durchzusetzen.
*UNICEF Deutschland, Dt. Kinderschutzbund, Dt. Kinderhilfswerk, Dt. Liga für das Kind
Weiterführende Literatur:
1) vom Lehn, Britta, „Kindeswohl, ade! Gesundheitsverhütung im Wohlstandsland, PISA war auch eine physische Pleite“, Edition octopus, Münster 2004.
2) Tough, Paul, „How Children Succeed; Grit, Curiosity, and the Hidden Power of Character“, houghton mifflin harcourt, Boston, New York, 2012.
3) Holz, Gerda, „Armut bei Kindern – eine deutsche Wirklichkeit“, in „Deutsches Pfarrerblatt“, Heft 6/2008, 108. Jahrgang
4) Prof. Dr. Ilona Ostner, „Auf den Anfang kommt es an“ – Anmerkungen zur „Europäisierung des Aufwachsens kleiner Kinder“ Fachzeitschrift Recht der Jugend und des Bildungswesens, RdJB, 2009, 57(1), S. 44-62
5) Prof. Dr. Gunther Moll, Vortrag auf der Jahreshauptversammlung des vffm im St. Burkardushaus, Würzburg, am 15.09.07
6) Nationalsozialistisches Gesetz vom 01.12.1936. Beuys Barbara, „Sophie Scholl“, Carl HanserVerlag München 2010
7) Renz-Polster, Herbert, „Die Kindheit ist unantastbar. Warum Eltern ihr Recht auf Erziehung zurückfordern müssen“, BeltzVerlag, Weinheim Basel, 2014
8) Burchhardt, Matthias, „Liebesgrüße aus Gütersloh, Postdemokratie am Beispiel der Bertelsmann Stiftung“ in Deutsches Pfarrerblatt, Heft 9/2013, 113. Jahrgang
9) Müller, Albrecht, „Meinungsmache: Wie Wirtschaft und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen“, Droemer-Knaur, 2009