Designtes Aufwachsen?

Beitragsbild: Kinder in Kita

Von Katrin U. Ernst aus der fh 1/23 

 

Persönlich motivierte kritische Auseinandersetzung mit der frühen Kindheit im urbanen Umfeld unserer Zeit

Verknüpft sich Kindheit und Aufwachsen im Hier und Jetzt mit Aufmerksamkeit, Geborgenheit, Hinwendung, Wertschätzung plus Vertrauen? Ist es uns wichtig, dass es so ist? Beschreiben Begriffe wie Formung, Optimierung, Anpassung, Stress und Zwang nicht zutreffender das Aufwachsen in unserer Zeit? Berührt es uns, falls es so ist? Hierzu fand ich folgende Worte von Michael Hüter: „Am Anfang war nicht das Wort, sondern zuerst einmal die elterliche Liebe. Die familiale Sozialisation. Das ist das große Erfolgsgeheimnis des Sapiens. In den letzten Jahrhunderten hat sich der Mensch zweifelsfrei die Erde untertan gemacht. Nun ist der Mensch – zunehmend weltweit – gerade dabei, sich das Kind untertan zu machen. Nochmals: Kind ist Mensch. Alle krankhaften gesellschaftlichen Erscheinungen können Sie letztlich auf die Kindheit zurückführen.“ 1

Genau! Kinder sind Menschen. Und besonders kleine Kinder erfahren in unserer Gesellschaft zunehmend unsagbares Leid! Die durch Corona bedingte „epidemische Lage“ mit all ihren Einschränkungen verdeckte die Problematik des Aufwachsens in einer Optimierungsblase. Ein zunächst von mir als Einzelfall gewertetes Extrem trieb mich an, in meinem urbanisierten Umfeld das charakteristische Aufwachsen zu erkunden. Die Selbstverständlichkeit, ein Kind um seiner selbst willen zu lieben, scheint nicht mehr selbstverständlich zu sein. Wie konnte das geschehen? Als Designer frage ich eher selten nach dem WARUM, als Mutter und Oma sieht es anders aus.

 

1 Rückblick

Ein Studentenpaar, das Mitte der 80er-Jahre ihr Kind nicht in einer Kinderkrippe verwahren ließ, hatte Seltenheitswert. Ein Kraftakt, den wir als Eltern dank unserer festen Überzeugung durchstanden und durchhielten. Mein Mann und ich erlebten unsere DDR-Kindheit jeweils im Schutz der Familie. Frühkindliche Fremdbetreuung samt anderen Versuchen der Einflussnahme des Systems wurden mit viel Einfallsreichtum, Engagement, zudem Opferbereitschaft verhindert. Familie, Nachbarschaft dazu Bekanntenkreis – unsere praxisbezogene Lebensschule, welche unser Leben als Paar und als Familie bestimmte. Liebe plus Bindung standen damals – genauso viel später Betreuung und Pflege beim Rollentausch – außer Frage. 

Die Entscheidung für eine Familie ist eine Entscheidung zu einer Lebensform, mit Einfluss auf die Berufstätigkeit wie den finanziellen Spielraum, begründet in der Zeit, in der das Leben, der Alltag zunehmend segmentiert wurde – Familie da, Erwerbsarbeit dort. Auswüchse als auch Folgen früher Fremdbetreuung in den 70ern und 80ern zeigten sich bereits in der DDR, sofern Sensibilität für dieses Thema bestand. Außerfamiliäre Betreuung im Kleinkindalter unserer beiden Kinder war für uns keine Option.

Einlassen auf neues Leben gibt Kraft, zwingt zur Ruhe, zu Einhalt, zur Konzentration auf das Wesentliche sowie das Besondere im Augenblick. Dabei entstehen Stärken und Perspektiven, die wir ohne Kinder nie hätten erfahren dürfen. Ein entspanntes Umgehen im Umfeld, in der Nachbarschaft, in der Familie, zugleich etwas Nachsicht hinsichtlich anderer Positionen, schafft fassbaren Freiraum.

 

2 Mut + Vertrauen!

Umso bedauerlicher, ja schlicht unfassbar ist es für mich heute, dass Familienplanung und -leben technokratisch zu verkommen scheinen. So finden sich hier Begriffe, welche eher dem Management zuzuordnen sind. Eine Entscheidung für das Leben, für Kinder ist eine Prioritätensetzung. Eine Verschiebung der Prioritäten hin zur Anpassung in Form von Unterordnung in Gruppen/Kreisen mag das Leben mit Kind vereinfachen, denn Normen werden durch Außenstehende – online oder real – vorgegeben. Beim Teilen oder beim Austausch der subjektiven Erfahrungen fehlt jede Form von Regulativ – genaugenommen wird es grundsätzlich ausgeschlossen. Einmal eingeübtes Verhalten verstärkt, vielmehr steigert sich. Vermeintliche Stabilität der Familie wird unreflektiert, überdies konformistisch mittels Drang nach sozialer Anerkennung erarbeitet. Ständige Unsicherheiten, Ängste vor Unfällen, Krankheiten, vor dem kindlichen Bedarf an Zuwendung, sind schwerlich zu übersehen. Gewissermaßen statisch, ja sicher, soll sich das Leben als Familie gestalten. Unabhängigkeit und Vielfalt im Alltag reservieren die Eltern für sich. Ansprüche und Erwartungen an ihre kleinen Kinder kommen ungerührt denen an Erwachsene gleich.

Liebe zum Kind bedeutet bedingungslos innige Verbundenheit, zugleich Hingabe und nicht das kompromisslose Einfordern kindlicher Zuneigung. Benötigt es unzähliger Anleitungen, um einem Kind Geborgenheit und Sicherheit zu geben? Benötigt es unzähliger Vergleiche in diversen Foren bis zur blinden Ergebenheit plus Nachweis kostspieliger Lifestyleprodukte? Sind nicht weniger Aktionismus, mehr Ruhe, Besinnung mit Reflexion der eigenen Kindheit wirksam? Lebenserfahrung und natürliche Intuition gibt es nicht zu kaufen, zu googeln oder zu posten.

Wir leben doch alle in einer anonymen Massengesellschaft unter Anpassungsdruck. Viele junge Menschen sind isoliert, obwohl sie ausdauernd in Gemeinschaften primär virtuell kommunizieren. Praktika samt anderen, der beruflichen Karriere geschuldete Maßnahmen führen zu häufigen Wohnortwechseln, folglich zu Auseinander- und Nebeneinanderherleben. Die dann irgendwo verortete Kleinfamilie bietet kaum die verschiedenen erwachsenen Bezugspersonen, von denen Kinder lernen sowie Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren könnten.

Mit funktionell-technokratischen Mitteln wie Kita, also Ganztagsfremdbetreuung, zwängt man lieber sich und vor allem die Kinder in eine Lebensform, die oft wenig deren Bedürfnissen und Anlagen entspricht.

 

3 Begeistern + Motivieren?

Alltag in seiner Vielfalt mag im ländlichen Raum punktuell von Kindern noch erlebt werden. Auf welche Weise nehmen wir Kinder in unseren Städten wahr? Tagsüber begegnen uns Kinderwagen, am Nachmittag gelegentlich Schulkinder, zeitig am Morgen und paradoxerweise „als letzte“ spätnachmittags, fast abends, die kleinen Kita-Kinder. Wie nehmen diese kleinen Kinder ihre Umwelt wahr? Was beinhaltet ihre Umgebung?
Ist es nicht mehr oder weniger der Wechsel von einem abgesonderten Raum, dem Kinderzimmer in der elterlichen Wohnstätte, zu einem anderen abgesonderten Raum – die von Erwachsenen vermeintlich kindgerecht arrangierte Betreuungsstätte mit vielen Kindern gleicher Altersstufe. Dieser Ort ist gewiss mit frühem Sprachunterricht, sogenanntem die Intelligenz fördernden Spielzeug, Fremdsprachen- und Musikunterricht inklusive optimierter Ernährung verbunden bzw. ausgestattet.

Gilt es jegliche Entwicklung von Kreativität, Individualität und Spontanität erfolgreich zu bezwingen? Eigenschaften, die generell von Bedeutung sind, es weiter sein werden und nahezu jedem Kleinkind mitgegeben sind. Was verbinden wir mit Kreativität und kindlichem Spiel? Ist es das angewiesene Ausmalen eines Bildes? Vielleicht Bausteine nach Vorlage zusammenzufügen? Oder denken wir hierbei an Folgendes: Die eigene Welt mit Ruhe bestaunen, Erklärungen einfordern, suchen, finden, experimentieren, Neues probieren und neugierig, wie mutig, Bekanntes hinterfragen? Entdeckerfreude geeint mit Wertschätzung? Unsere Kinder wachsen in einer oberflächlich bunten, zugleich scheinbar vielfältigen Welt auf. Sich mit freiem Spiel die Welt selbst erobern? Nach Anleitung in festgelegten Formaten wird mit den Kindern gebastelt, gemalt, musiziert. Spielen? Doch eher beschäftigen, also praktisch verwahren! Erfahrungen lenken die Erwartungen. Bereits die Einbeziehung kleiner Kinder in einfache Erledigungen des Alltages bereitet Schwierigkeiten als auch Unverständnis. Nicht gemeinsam Herausforderungen angehen, sondern schablonenhaft getrennt abarbeiten. Eine weitere Chance zur Annahme des Kindes mit seinen Eigenheiten, seinen Phantasien und Ideen bleibt ungenutzt.

 

4 Türöffner zur Welt?

Befreien von vertrauten Verbindlichkeiten steht hoch im Kurs. Gefühlte gesellschaftliche Mobilität scheint Alternativen jederzeit verfügbar zu machen. In sozialen Medien nimmt man sich als angenommen und bestätigt wahr, nicht zuletzt auch und vor allem, wenn man es schafft, von der breiten Masse viele „Likes“ zu bekommen – ein sich selbst verstärkender, teils in sich selbst überraschend stabiler Kreislauf gegenseitiger Bestätigung der eigenen Wahrnehmung. Familiengründung möchte vermeintlich wichtigen, generell vorgegebenen Stereotypen gerecht werden. Entsprechend des Mobiliars wird die Anleitung gesucht und gefunden. Es mutet befremdlich an, wenn vor der Geburt eines Kindes mit deutlichem finanziellen Aufwand professionell angepriesene, ökologisch korrekte, zudem pädagogisch gelobte Grundausstattungen erworben werden und dieses Kind 12 Monate später – je nach Blickpunkt – im krassen Gegensatz dazu und ohne Bedenken nahezu den gesamten Tag an einen nicht selbst gestaltbaren Ort ausgelagert wird. Letztendlich wird subjektive Sicherheit, Zugehörigkeit zu einem selbstdefinierten Kreis, ja schlicht soziale Anerkennung erkauft.

Zu meinem Entsetzen instrumentalisiert man zunehmend die Kinder, hält sie als Spielzeug, mehr noch als Lifestyleprodukt. Die sogenannte Mitte der Gesellschaft ist nicht frei von dieser Form psychischer und physischer Pein. Selbst in das Familienleben nahm die Cancel-Kultur Einzug. Vollständige Familien- oder Elternteilentziehung, Auswahl von „passenden“ Spielkameraden, nicht zuletzt die Reduktion bzw. dogmatische Auswahl der Spielsachen gehören nach meinen direkten Erfahrungen zur Norm urbanen Aufwachsens. Zum energischen Einfügen in die selbsterfundene Welt passt keine auch nur dezent andere Anschauung. Positives Denken und ein konstruktives Miteinander werden nicht kommuniziert.

 

5 Resümee

Diese für mich traurige und erschreckende Analyse, sollte einen Ansatz, einen Weg, ein Resultat hervorbringen! Entsprechende Herangehensweisen kann ich als Designer jedoch nur dort einsetzen, wo zielorientiert gearbeitet werden soll, wo es ein Interesse zur Lösung gibt.

Interesse resultiert aus Problembewusstsein, Neugier, Offenheit und Austausch.

Seit der beginnenden Industrialisierung leben wir losgelöst von direkter produktiver Arbeit zwecks existenziellen Erhalts. Inzwischen, in der Phase zunehmender Digitalisierung, lösen wir uns fast vollständig von der Familie als dem individuellen, spezifischen Fundament unseres Daseins. Damit entzieht man den Nachwachsenden nichts weniger als die Möglichkeit, im Laufe ihres Lebens auf die erfahrene Basis zurückzugreifen.

Kleine Kinder wachsen nicht mehr in innigen, wie in der Vielfalt verlässlichen Gemeinschaften auf. In einer synthetischen, kompromisslosen, intoleranten und so „harmonisierten“ Welt verwahrt man sie. Als ewig gestrig oder absurd wird Familienverbundenheit plus Bodenständigkeit kommuniziert. 

Alles ist optimierbar und damit anpassbar für diese Welt – alles muss optimierbar und damit anpassbar sein? Auch die Kinder? Etwas zu designen bedeutet u.a. das Optimieren von Objekten bzw. Prozessen. Das heutige Aufwachsen empfinde ich als einen von außen vorgegebenen Prozess, auf den einige Eltern anscheinend nur noch marginalen Einfluss haben wollen.

 

Quellen:
1 Michael Hüter, „Evolution durch Liebe“, 3. Stiftungstag „Elternschaft und Beziehungskultur. Beziehung als Grundlage für Erziehung“, 23.11.2019, Hans-Joachim Maaz – Stiftung Beziehungskultur, Halle/Saale

Katrin U. Ernst ist Designer im Bereich strategischer und systemischer Planungen und Mitglied des Projektes ufim = Unser Faszinosum innovativer Methoden = aktuelle Technologien erklären und erfahrbar machen, damit ihre Vorteile verstanden und angewandt werden können. www.ufim.info

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