Der 8. Familienbericht. Die ursprüngliche Absicht der Familienberichte wurde pervertiert (Fh 2012/3)

Von Johannes Resch

Während die ersten fünf Familienberichte(1) scharfe Kritik an der Familienpolitik der jeweiligen Bundesregierungen übten, kam der 7. Bericht (2006) wie eine Art Hofberichterstattung für die Bundesregierung daher. Der 8. Bericht (2012)(2) liest sich sogar in weiten Teilen wie ein Forderungskatalog der Wirtschaft an die Familien. Er ist vor dem Hintergrund der bisherigen Familienberichterstattung zu beurteilen.

Die Berichte 1 bis 5 (1968, 1975, 1979, 1986, 1994) zeigten nachdrücklich die mit der Kinderzahl zunehmende Benachteiligung der Familien auf. Schon im 2. Bericht wurde zum Abbau des bestehenden Gerechtigkeitsdefizits eindringlich ein Erziehungsgeld zur Honorierung der Erziehungsarbeit gefordert. Der 5. Bericht geißelte die „strukturelle Rücksichtslosigkeit unserer Gesellschaft“ gegenüber Familien, die insbesondere im Sozialrecht, namentlich dem Rentenrecht, begründet ist. Er wies darauf hin, dass „maximal 25 %“ dieses Nachteils durch den völlig unzureichenden „Familienlastenausgleich“ kompensiert werden.
Der 6. Bericht (2000) war der Situation der Migrantenfamilien gewidmet. Hier wurde die alle Familien betreffende und im 5. Bericht beschriebene „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ nicht thematisiert.

Der 7. Bericht (2006) unter dem Titel „Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik“ stellt eine deutliche Zäsur dar. Im Vorfeld wurden „die relevanten gesellschaftlichen Akteure“ befragt, welche Themen dieser Bericht behandeln solle. Wenngleich bei deren Aufzählung „Familienverbände, Kirchen, Gewerkschaften und Wirtschaft, Politik und Wissenschaft“(3) die Familienverbände als erste genannt sind, wird deutlich, dass vor allem Institutionen befragt wurden, die die bisherige Politik geprägt oder mitgeprägt hatten. Familienverbände spielten dabei eher eine Randrolle. Bei diesem Bericht sollte wohl eine sachorientierte, wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung vermieden werden, die nach den bisherigen Berichten die Bundesregierungen in Verlegenheit gebracht hatte. Tatsächlich wurde zu der im 5. Bericht beschriebenen „strukturellen Rücksichts­losigkeit gegenüber Familien“ überhaupt nicht mehr Stellung genommen. Stattdessen wurden Maßnahmen empfohlen (wie das einkommensabhängige Elterngeld), die von der Regierung schon längst konzipiert waren. Damit wurde der 7. Bericht zu einer Art „Hofberichterstattung“ für die Bundesregierung.

Nach dieser Entwicklung der Berichterstattung war auch vom 8. Familienbericht, der im März 2012 unter dem Titel „Zeit für Familie“ veröffentlicht wurde, keine sachliche Kritik zu erwarten. Von den acht beauftragten Kommissionsmitgliedern kamen fünf aus Bereichen der Arbeitsmarktforschung, wobei die Familienarbeit bekanntlich nicht zum „Arbeitsmarkt“ gezählt wird. Die drei übrigen sind Fachleute für Frühpädagogik, Gerontologie (Altersforschung) und Bevölkerungsforschung. Es gab in der Kommission zum 8. Familienbericht also niemanden, der/die als Vertreter/in umfassender Familienwissenschaft gelten könnte. Auch die kinderärztliche Kompetenz fehlt im Bericht völlig.

Ganz im Sinne des regierungsamtlichen Gender Mainstreamings nehmen Vergleiche zur Arbeitsverteilung zwischen Frauen und Männern einen großen Raum ein. Das Kindeswohl dagegen ist kaum Gegenstand der Überlegungen, obwohl es ursprünglich Ausgangspunkt für die Familienberichterstattung war.

Der Bericht könnte in weiten Passagen auch im Auftrag der Wirtschaft geschrieben worden sein. Es wird zwar nicht bestritten, dass „Zeit für Familie“ erforderlich ist, aber die entscheidende Frage, ob Eltern mehr Zeit für ihre Kinder brauchen, wird nicht gestellt. Stattdessen werden Wege gesucht, wie Defizite im Zeithaushalt der Eltern wegorganisiert werden können. Dass Familienarbeit – das heißt, der Umgang mit Kindern – nicht vergleichbar durchorganisiert werden kann wie die Abläufe in einer Fabrik oder einem Büro, ist den offensichtlich betriebswirtschaftlich geschulten Wissenschaftler/inne/n fremd.
Zitat (S. 7 des Berichts): Strukturell verursachte Zeitknappheit entsteht, wenn die Zeitstrukturen unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilsysteme nicht miteinander abgestimmt sind und Akteure, die sich in zwei oder mehr dieser Systeme bewegen, systematisch Zeitkonflikte zu bewältigen haben. (Gemeint sind hier Eltern, die unter dem Spannungsverhältnis von Erwerbsarbeitszeit und Öffnungszeiten von Kitas und Behörden leben.)

Auf die viel näherliegende Ursache für die Zeitknappheit, nämlich die Nichtbezahlung der Familienarbeit, was dann zu zusätzlicher Erwerbsarbeit mit wiederum daraus folgendem Zeitmangel führt, kommen die Wissenschaftler/innen nicht. Oder ignorieren sie diesen Zusammenhang, weil sie wissen, dass die Bundesregierung das nicht hören will?
Auch die Methodik lässt darauf schließen, dass es den Autoren und Autorinnen gar nicht um eine wirklichkeitsnahe Beschäftigung mit dem Zeithaushalt von Eltern ging. So wird in Tab. 2.2 (S. 24) der Zeithaushalt von Kinderlosen und Eltern minderjähriger Kinder verglichen. Dabei ist der Zeitbedarf für Hausarbeit bei Eltern etwa doppelt so groß im Vergleich zu den Kinderlosen, was statistisch der Wirklichkeit entsprechen dürfte. Trotzdem ergibt sich daraus kein realistisches Bild für den Zeithaushalt von Eltern, weil weder Kinderzahl noch Alter der Kinder berücksichtigt werden. Wenn die Zeithaushalte von Eltern eines/einer 16-Jährigen und von Eltern dreier Kinder im Alter von 0 bis 6 in einen Topf geworfen und dann mit dem Zeithaushalt von Kinderlosen verglichen werden, ist das Ergebnis so gut wie wertlos. Eigentlich ist ein solcher Vergleich nur unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaft sinnvoll, wieviel Zeit der Eltern durch Auslagerung der Kinder aus der Familie „mobilisiert“ werden kann.

Eine gewisse Aussage zur Zeitnot erwerbstätiger Eltern ergibt sich aus Tab. 2.16 (S. 43). Auf die Frage: „Haben Sie sich in den letzten vier Wochen gehetzt oder unter Zeitmangel gefühlt?“ antworteten rund 51 Prozent der Eltern in Paarhaushalten, die für ihre minderjährigen Kinder sorgen und beide vollerwerbstätig sind: „immer“ oder „oft“. Mütter/Väter minderjähriger Kinder, ebenfalls aus Paarhaushalten, bei denen aber nur ein Elternteil vollerwerbstätig ist, bejahen diese Frage nur zu rund 40 Prozent. Alleinerziehende erwerbstätige Frauen haben sich „in den letzten vier Wochen“ sogar zu 61 Prozent „immer“ bzw. „oft“ „gehetzt oder unter Zeitmangel gefühlt“. Auch hier wären die Unterschiede sicher erheblich krasser, wenn Alter und Anzahl der Kinder berücksichtigt worden wären.
Die alte Volksweisheit „Zeit ist Geld“ bleibt von der Kommission unbeachtet. Es interessiert nicht, dass Eltern, die nicht unter Zeitknappheit leiden, das in der Regel durch niedrigeres Einkommen erkaufen müssen.

Die aktuelle Frage: „Warum leiden Eltern unter Zeitknappheit?“ war in der älteren Literatur noch kein Thema. Der Schlüssel liegt in unserem Sozialsystem: Früher verursachten Kinder zwar ebenso viel Arbeit wie heute. Aber die Eltern erarbeiteten durch die Erziehung ihrer Kinder gleichzeitig ihre Altersversorgung, da sie in der Regel später von ihren Kindern versorgt wurden. Menschen ohne Kinder mussten dagegen die Energie, die Eltern für ihre Kinder brauchten, in zusätzliche Erwerbsarbeit stecken, um sich eine den Eltern vergleichbare Alters­sicherung zu erarbeiten. So waren Eltern und Kinderlose bei vergleichbarem Arbeitseinsatz in ihrem Alter auch vergleichbar abgesichert. Erst unser Sozialrecht, insbesondere die gesetzliche Rentenversicherung, hat Eltern zu den Verlierern der Gesellschaft gemacht. – Diese Tatsache war Gegenstand der ersten fünf Familienberichte, wird aber im 7. und 8. Bericht völlig ignoriert. Selbst eine Leugnung der noch im 5. Familienbericht beschriebenen „strukturellen Rücksichtslosigkeit gegenüber Familien“ hätte ja einer Begründung bedurft.

Es ist von einer gewissen Brisanz, dass die vermutlich von Wirtschaft und Bundesregierung gewünschte Tendenz dieses Berichts zur Mobilisierung letzter Arbeitsreserven der Eltern für den Erwerbsarbeitsmarkt eine Folge des Geburtenrückgangs ist, der seinerseits weitgehend als Folge der Benachteiligung der Eltern in den letzten Jahrzehnten anzusehen ist. Trotzdem empfiehlt der Bericht nicht den Abbau der Benachteiligung von Eltern. Im Gegenteil: sie sollen unter noch stärkeren Zeitdruck gesetzt werden. So empfiehlt der Bericht tatsächlich eine Verkürzung der Elternzeit von drei auf zwei Jahre. Langfristige gesellschaftliche Perspektiven spielen keine Rolle. Es geht nur noch um kurzfristige Profite für die deutsche Wirtschaft. Selbst ein Familienbericht wird dazu benutzt, die Ausbeutung der Eltern zu verschleiern, zu beschönigen und sogar weiter auszubauen. Aus dem Kontrollinstrument „Familienbericht“ ist ein Rechtfertigungsinstrument für eine familienfeindliche Politik im Auftrag von Wirtschaft, Krippenbetreibern und Ideolog/inn/en geworden.

Der Autor bietet auf seiner Webseite www.johannes-resch.de unter dem Titel „Die traurige Geschichte der Familienberichte“ eine Besprechung aller acht Familienberichte an.

Quellen:
1) Die Familienberichte 1-7 stehen als PDF zum Download zur Verfügung unter: Familienberichte 1-7 Die Berichte 6, 7 und 8 sind als Druckexemplar zu beziehen beim Publikationsversand der Bundes­regierung, Postfach 48 10 09, 18132 Rostock; E-Mail: publikationen@bundesregierung.de
2) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Zeit für Familie. Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familien­politik. Achter Familienbericht. (2012) Im Internet herunterzuladen unter 8. Familienbericht
3) 7. Familienbericht, S. XXIII u. S. 4

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