Bindung vor Bildung – wie aktive Elternschaft den Betreuungsnotstand entschärfen kann (Fh 2018/2)

von Romy Richter

Deutschlandweit suchen Eltern händeringend nach einem Kitaplatz für ihr Kind, ziehen dafür sogar vor Gericht.

Die Erziehung unserer Kinder außer Haus hat überhandgenommen. Infolgedessen erleben wir aktuell einen Betreuungsnotstand, den wir natürlicherweise nicht haben müssten. Ein Tagesschaubericht der ARD vom 06.03.2018 mit dem Titel „Erzieher verzweifelt gesucht“ zog eine erschreckende Bilanz, die im Interesse von Eltern, Kindern und Erzieherinnen Beachtung finden sollte.

Riskante Fehlplanung

Sobald mehr Kinder in einer Kita betreut werden, was der Zweck des Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz ab dem 1. Lebensjahr war, braucht es mehr Personal. Dementsprechend absehbar war auch, dass die Anzahl der verfügbaren Erzieher/innen nicht ausreichen wird. Warum hat man diesen Zusammenhang nicht sehen wollen? Während der „äußere“ Kitaausbau extrem fortschreitet und hohe Summen an Steuergeldern verwendet, scheitert das Konzept nun am „inneren“ Bau. Und obwohl Fachkräfte nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind, lassen Politik und Wirtschaft Eltern weiterhin ins offene Messer rennen, indem sie die häusliche Elternarbeit öffentlich diffamieren, Erwerbsarbeit hingegen überbewerten und Betreuungsleistungen für Kinder nur dann finanziell unterstützen, wenn sie außerhalb der eigenen Familie in Anspruch genommen werden. Warum?

Hintergründe für Krippen

Die frühzeitige Fremdbetreuung unserer Kinder dient in erster Linie politischen und wirtschaftlichen Interessen. Im Vordergrund steht nicht das Wohl der Familie und auch nicht die Qualität der Betreuung. Frauen werden als steuerzahlende Fachkräfte am Arbeitsmarkt gebraucht und sind deshalb als selbstbetreuende Mütter nicht gern gesehen, obwohl Untersuchungen wie die NICHD-Studie von 1991 belegen, dass die Krippenbetreuung von Kindern negative Folgen für deren Gesamtentwicklung hat – sowohl in sozialer als auch emotionaler, intellektueller und gesundheitlicher Hinsicht.

Notwendigkeit natürlicher Elternschaft

Jedes Kind bekommt seine optimalen Betreuer zur Geburt an die Seite gestellt: Mama und Papa. Schon allein zahlenmäßig ist es unmöglich, die Eltern durch Erzieher/innen ersetzen zu wollen. Wozu auch? Die besonderen kindlichen Grundbedürfnisse in den ersten sensiblen Lebensjahren machen eine 1:1 Betreuung durch die vertrauteste Bezugsperson, die Mutter, notwendig. Nur in der Verbindung mit ihr findet das Kleinkind die Geborgenheit und Sicherheit, die ihm wirklich entspricht. Und nur im täglichen Zusammensein lernt die Mutter nach und nach das Quengeln und Schreien ihres Babys richtig zu deuten und liebevoll darauf einzugehen. Schon in den 50er Jahren haben Mary Ainsworth (kanad. Psychologin) und John Bowlby (engl. Kinderpsychiater) diese Zusammenhänge beschrieben und betont, dass das ungestörte Zusammensein von Mutter und Kind nicht nur für die Entwicklung des Babys, sondern auch für die Ausprägung der Mütterlichkeit von großer Wichtigkeit sei.

Dieser gegenseitige Bindungsprozess braucht Zeit und Unterstützung durch den Vater als Versorger und Beschützer der Familie, außerdem gute Vorbilder. Viele Mütter, die ihre Kinder heute in die Krippe geben, waren selbst Krippenkinder und haben deshalb kaum eine Vorstellung davon, wie man als Mutter den Alltag mit Kleinkind gestaltet. Sie schätzen die Bedeutung ihrer Rolle zudem gering. Unsicherheit im Umgang mit dem Kind und instabile Beziehungsmuster sind mögliche Folgen einer extrem verkürzten Elternzeit. Wenn Eltern sich dagegen persönlich in das Leben ihres Kindes einbringen, zahlt sich das für Familie und Gesellschaft nachhaltig aus. Investitionen in funktionierende Elternschaft sind demnach vielversprechender als die Finanzierung des Elternersatzes.

Mogelpackung „Vereinbarkeit“

„Der Beruf Erzieher stellt hohe Anforderungen und ist anstrengend“, erklärte Dr. Ilse Wehrmann, Sachverständige für Frühpädagogik aus Bremen im Tagesschaubericht. Eine Tatsache, die man Vollzeitmüttern gegenüber mit Fragen wie „Was machst du denn den ganzen Tag?“ gern in Abrede stellt. Sie sollen stattdessen beides hinkriegen: Berufstätigkeit – möglichst in Vollzeit – und die Erziehung des Nachwuchses. Burnout, hohe Scheidungsraten, Unsicherheit bei der Erziehung, Schulversagen der Kinder, ein stetig wachsender Bedarf an Mutter-Kind-Kuren etc. sind ernstzunehmende Folgen der aktuellen Familienpolitik, die beide Elternteile in die Erwerbsarbeit drängt. Doch die viel gepriesene Vereinbarkeit hat einen hohen Preis: zwischenmenschliche Beziehungen bleiben auf der Strecke und machen zudem einen finanziellen Mehraufwand an anderer Stelle notwendig – denken wir allein an den wachsenden Therapiebedarf vieler Kinder, der sich zum Teil aus mangelnder Förderung durch Elternhaus und Kita ergibt.

Geringschätzung der Mutterschaft

Mütterlichkeit wird derzeit in Deutschland nur dann gesellschaftlich wertgeschätzt und anerkannt, wenn sie nicht den eigenen, sondern fremden Kindern gilt. Mütter leiden unter der Geringschätzung ihres häuslichen Engagements und der fehlenden Vergütung. Die Bereitschaft, zu Gunsten der Kindererziehung finanziell zurückzustecken und auf eine berufliche Weiterentwicklung zu verzichten, schwindet zunehmend. Doch auch die Attraktivität des Erzieherberufes leidet. Warum? Aus dem gleichen Grund, der Mütter momentan davon abhält, ihre U3-Kinder zu Hause zu betreuen: „Die Verdienstmöglichkeiten sind vielen zu gering“, so Wehrmann. Erzieher/innen im U3-Bereich trifft zudem ein hartes Los: auch bei noch so hohem Engagement können sie den Kindern nicht geben, was sie wirklich brauchen: die bedingungslose Liebe ihrer Eltern.

Missverständnis zwischen Bindung und Bildung

Eine verzwickte Problematik sehe ich darin, dass die Bedürfnisse von U3-Kindern (Kinder unter 3 Jahren) und Kindergartenkindern (Kinder ab 3 Jahren) in einen Topf geworfen werden. Das verunsichert v.a. Eltern und führt zu einem hohen Personalbedarf im Krippenbereich und einer entsprechend vernachlässigten „Bildungsarbeit“ in der eigentlichen Kita. Eine konsequente Auseinanderhaltung der grundverschiedenen kindlichen Bedürfnisse und deren spezifische Befriedigung könnte die Lage entschärfen, wenn zudem die häusliche U3-Betreuung durch die Eltern finanziell anerkannt und gleich bewertet würde. Denn: U3-Kinder profitieren von Bindung und brauchen dazu ihre Eltern. Kindergartenkinder hingegen entwickeln, auf sicherer emotionaler Bindung aufbauend, ganz von selbst die nötige Aufgeschlossenheit für Bildung. Dann können pädagogische Angebote des Kindergartens tatsächlich greifen.

Wer ist als Erzieher/in geeignet?

Es stimmt nachdenklich, dass wir allen Berufsgruppen zutrauen, als Quereinsteiger eine Qualifikation zum Erzieher zu erwerben, nur den eigenen Eltern nicht. Ihnen wird ihre natürliche Befähigung zur Elternschaft abgesprochen und mit gravierenden „Bildungslücken des Kindes“ gedroht, sollte das Kleine keine Kita besuchen. Je früher, desto besser. Es ist ein Trauerspiel mit langfristigen Folgen, das auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wird: Eltern werden schnell in die Berufstätigkeit zurückgedrängt – im Glauben, dass die Fremdbetreuung, die die Kita bietet, ihre eigenen Möglichkeiten und Erziehungskompetenzen überträfe.

Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Im Bundesstaat Quebec/Kanada wurde in den 1990er Jahren ein umfassendes, hoch subventioniertes und Qualität kontrollierendes Betreuungsprogramm aufgelegt, das zu einer erheblichen Zunahme mütterlicher Berufstätigkeit führte. Im Rahmen der Studie wurden Vergleiche zu anderen kanadischen Bundesstaaten gezogen, die dieses Betreuungsprogramm nicht eingeführt hatten. Im Ergebnis wurden bei den Eltern, die ihre Kinder früh fremdbetreuen ließen, eine Verschlechterung aller Eltern-Kind-Interaktionsbarometer, eine Zunahme feindseliger und inkonsistenter Erziehung, schlechtere psychische Gesundheit (vermehrte mütterliche Depression) und geringere Beziehungszufriedenheit der Frauen beobachtet.

Bindung ist nicht nur eine Voraussetzung für Bildung, sondern auch für „Erziehungserfolg“, denn zum einen gehorchen sicher gebundene Kinder ihren Eltern gern und weitestgehend freiwillig und zum anderen brauchen Eltern Zeit und zahlreiche Gelegenheiten, sich im Alltag in dieser Rolle zu bewähren. Werden Kinder aber in immer wachsendem Ausmaß in Einrichtungen betreut bzw. erzogen und findet Familienleben nur noch am Wochenende statt, fehlt den Eltern auch ihrerseits die hilfreiche Bindung und die notwendige Übung.

Wenn die Kita nicht hält, was sie verspricht

Gern und oft wird argumentiert, dass gerade Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern und Kinder mit Migrationshintergrund von einer möglichst frühen Fremdbetreuung profitierten. Doch lässt der aktuelle Betreuungsnotstand die versprochene „Bildungsarbeit“ überhaupt zu? „Wir erleben immer wieder, dass Angebote eingeschränkt werden müssen, weil den Einrichtungen Fachkräfte fehlen“, so Martin Künstler, Fachgruppenleiter Kinder und Familie bei „Der Paritätische in Nordrhein-Westfalen“ im Tagesschaubericht. Eltern, die beide berufstätig sein wollen oder müssen, sind also gezwungen, Abstriche zu machen und ihre Erwartungen deutlich zurückschrauben: Sie haben auf Grund der immensen Nachfrage in den Kitas mittlerweile keine Einflussmöglichkeit mehr auf die Auswahl ihres Kita-Platzes, von Wünschen und Vorstellungen über die pädagogische und konzeptionelle Arbeit ganz abgesehen.

Beim Original bleiben

Unter den genannten Gesichtspunkten ist es an der Zeit, die Weichen neu zu stellen. Wenn den Eltern ihr wesentlicher Anteil an der Betreuung ihres Kindes v.a. in den ersten prägenden Jahren überlassen bliebe und offiziell Anerkennung fände, bräuchten wir keinen derartigen Betreuungsnotstand beklagen – weder qualitativ noch quantitativ. Im sächsischen Bildungsplan heißt es:

„Eltern sind die wichtigsten Personen im Leben der Kinder. Sie sind die ersten Kommunikationspartner und die Menschen, zu denen die Kinder die intensivste Beziehung aufbauen. Diese Bindung gibt den Kindern Sicherheit und Schutz. Nur auf dieser Grundlage können sie vom ersten Lebenstag an lernen und die Erfahrungen sammeln, die sie später in die Kindertageseinrichtung mitbringen und kontinuierlich erweitern. Kindertagesstätten und Kindertagespflegestellen (…) sollen die Bildung und Erziehung im Elternhaus begleiten, unterstützen und ergänzen, jedoch nicht ersetzen.“

Wir wären gut beraten, uns daran auszurichten und Eltern in ihrer Rolle als solche wertzuschätzen, zu ermutigen und zu unterstützen – auch finanziell.

Romy Richter ist Mitbegründerin von „Nestbau e.V. Begeistert Familie leben“
www.nestbau-familie.de

Weiterführender Link:
https://www.spektrum.de/news/ein-gespraech-ist-mehr-als-nur-worte/1563362