Miriam Gebhardt
Alice im Niemandsland
Wie die deutsche Frauenbewegung die Frauen verlor
DVA Sachbuch, München 2012. ISBN: 978-3-421-04411-2
Buchbesprechung von Ute Steinheber
Zum 70. Geburtstag von Alice Schwarzer hat die an der Konstanzer Universität lehrende Wissenschaftlerin Miriam Gebhard ein erfreulich sachliches Buch vorgelegt. Sie nimmt uns mit auf eine Weltreise des Feminismus, der, einem prächtigen Schoner gleich, einst von Europa aus die Ozeane befuhr und neu beladen wieder zurückkam. An Bord waren „Frauen verschiedener Religion und Herkunft, bürgerliche Hausfrauen, Arbeiterinnen, Wissenschaftlerinnen, Lesben, Linke, Konservative, Internationalistinnen und Traditionalistinnen. Sie kämpften um sexuelle Selbstbestimmung und um Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder, um das Frauenstimmrecht und um gleichen Lohn für gleiche Arbeit.“ Und heute? Heute ist zumindest die deutsche
Frauenbewegung zusammengeschrumpft auf
eine einzige öffentliche Symbolfigur, Alice Schwarzer. Immer wenn es eine politische Herausforderung oder einen Skandal zur Sache der Frau gibt, meldet sie sich mediengewaltig zu Wort oder wird eingeladen, ihr immer gleiches Statement abzugeben: „Frauen, wehrt euch gefälligst“ oder „Männer sind immer schuld“ und „Frauen sind immer das Opfer“. Gnadenlos stellt die Historikerin dar, wie sehr Alice Schwarzer von ihrer intellektuellen Übermutter Simone de Beauvoir beeinflusst wurde und bis heute ist. Treffsicher analysiert die kundige Autorin, dass die hochmütige Französin in ihrer Bedeutung für den Feminismus, auch dank Schwarzers Propaganda in Deutschland, völlig überschätzt wird.
Mit den jungen feministischen Strömungen kann Schwarzer nichts anfangen: Die „Alphamädchen“ (Haaf/Klingner/Streidl) sind ihr zu männerfreundlich und spaßorientiert, „Neue deutsche Mädchen“ (Hensel/Raether) sind ihr zu weiblich-sentimental. Für Schwarzer sind das Verräterinnen, mit denen sie kühl abrechnet und klarstellt: Es gebe nur einen Feminismus in diesem Land, und den bestimme sie! Das ist ein klarer Fall von Selbstüberschätzung, denn lange vor 1968 gingen in Deutschland die Frauen auf die Barrikaden. 1865 wurde der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF) gegründet von Frauen, die bereits Seite an Seite mit Männern für Demokratie, höhere Bildung und gegen gesellschaftliche Missstände kämpften. Es gab die ersten Souffragetten der 1918er Welle, die mit Regenschirmen bewaffnet für das Wahlrecht eintraten; es gab herausragend mutige Frauen im Nationalsozialismus, die wie Sophie Scholl ermordet oder ins Exil vertrieben wurden, und eine Nachkriegsgeneration, die mit in die links-militante, anti-bürgerliche Studentenbewegung der 68er führte.
Es ist Gebhard hoch anzurechnen, dass sie bei all der Fülle historischer Namen und Details von den frühesten Anfängen bis in die Neuzeit der Genderbewegung immer sachlich bleibt. Wenn sie wertet, macht sie das deutlich als ihre eigene Auffassung, als ihre Meinung, als ihren ureigenen Aspekt. So vergleicht sie den heutigen Feminismus in Deutschland mit einem verlassenen Geisterschiff mit Alice Schwarzer als festgezurrter Galionsfigur. Denn das Dilemma der Frauen bleibt letztlich immer das gleiche: Wollen sie mehr Frau oder mehr Mann sein? Welchen Preis sind sie bereit zu bezahlen? Sind wir alle gleich oder doch andersartig in Wesen und Natur, in unseren Wünschen und Sehnsüchten? Dieses Buch lässt uns das reiche historische Erbe der Frauenbewegungen (wieder-)entdecken. Die Entscheidung, wie wir in Zukunft leben wollen, ist so frei, so schwer, so offen wie nie zuvor. Die Widersprüche, die Spannungen, die enormen Belastungen, wenn frau alles will, müssen gesehen und ausgehalten werden. Die Suche nach der eigenen Identität, die Sehnsucht nach einem universellen und erfüllten Menschentum ganz abgesehen vom Geschlecht, ist trotz aller Fortschritte nicht einfacher geworden.
Miriam Gebhard präsentiert hier ein hochinformatives, alle weiblichen Lebensentwürfe tolerierendes Sachbuch, das sich wohltuend von pseudowissenschaftlichen und populärfeministischen Schriften abhebt.