60 Jahre Kindergeld – eine Erfolgsgeschichte? (Fh 2014/3)

Beitragsbild: Symbolbild Kidergeld

von Gertrud Martin und Wiltraud Beckenbach

Ende des Jahres 1954 beschloss der Deutsche Bundestag mehrere Gesetze, wonach Eltern auf Antrag für dritte und weitere Kinder unter 18 Jahren monatlich 30 DM Kindergeld beziehen konnten. Ein Kommentator schrieb dazu: „Wie man sieht, ist eine solche Regelung noch weit entfernt von einer allgemeinen Sicherung des Aufwandes für Kinder, wie sie etwa in dem ‚Schreiber-Plan‘(1) in der Form der Kinder- und Jugendrente vorgesehen ist.“(2) Diese Anmerkung zeigt, dass damals die Diskussionen um Alterssicherung einerseits und Gerechtigkeit für die Eltern- und Kindergeneration andererseits durchaus im engen Zusammenhang geführt wurden.

Der erwähnte Schreiber-Plan war der Entwurf für ein Rentengesetz, das die durch die Kriegsfolgen dramatisch verschärfte Altersarmut spürbar mildern sollte. Ein Generationenvertrag sollte eingeführt werden, wonach – in einem Umlageverfahren – die Erwerbstätigen verpflichtet würden, sowohl die Alterssicherung der nicht mehr Erwerbstätigen zu übernehmen als auch in Form einer Kinder- und Jugendrente einen Ausgleich zu leisten für diejenigen, die in den Familien die nachwachsende Zahlergeneration aufziehen.

RENTENREFORM 1957: EINE RECHNUNG OHNE DEN WIRT
Im Herbst 1957 standen Bundestagswahlen an. Vor allem durch die Diskussionen um die Wiederaufrüstung und die Einführung der Wehrpflicht war die Wiederwahl für die konservativen Regierungsparteien sehr in Frage gestellt. Konrad Adenauer, seit 1949 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, trat die Flucht nach vorne an, indem er im Spätjahr 1956 die Arbeit an einem neuen Rentenrecht forcierte. Am 22. Januar 1957 wurden die Gesetze zur Neuregelung der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten beschlossen. Am 8. Februar stimmte der Bundesrat zu. Das Gesetz trat rückwirkend zum 01.01.1957 in Kraft. Die Renten stiegen auf einen Schlag um 60 Prozent, ohne dass die Empfänger auch nur einen Pfennig einbezahlt hatten. Die Renten wurden von den Erwerbstätigen beglichen, die dadurch ihrerseits einen fiktiven Rentenanspruch gegenüber der Kindergeneration erwarben. Die Last des erforderlichen Ausgleichs wurde der nachwachsenden Generation aufgebürdet, in Form einer „inhärenten Schuld“ (Erbschuld, die mit der Geburt übernommen wird). Die Leistung des Großziehens der nachfolgenden Zahler­generation blieb jedoch ohne Gegenleistung an den Eltern hängen.

„KINDER KRIEGEN DIE LEUTE IMMER“?
Mit diesen Beschlüssen war auch der Schreiber-Plan endgültig vom Tisch, ungeachtet des entschiedenen Protestes seines Verfassers Wilfrid Schreiber(3), der klar voraussah, was 60 Jahre später allen offenkundig ist: Ein umlagefinanziertes System, in dem die Leistungsträger – in diesem Fall die Eltern – keinen Anspruch auf Gegenleistung erwerben, hat keine Zukunft. Die Überzeugung Konrad Adenauers, dass die Leute, egal unter welchen Bedingungen, immer Kinder haben würden, war eine eltern-, besonders aber mütterverachtende Fehleinschätzung. Zudem hat es ein Feminismus, der „gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit“ als Maß der Dinge proklamiert, versäumt, dieses gerechte Prinzip auch jenseits der Geschlechterfrage zu postulieren, nämlich durch Gleichstellung der Familienarbeit in den Bereichen Erziehung, Pflege, Gesundheit und Bildung mit bezahlten Arbeitsplätzen in diesem Leistungsspektrum. Folgerichtig wäre doch, die Familienarbeit beispielsweise der Betreuungs- und Erziehungsarbeit von Erziehern und Lehrerinnen gegenüberzustellen und eine gleichartige Vergütung der elterlichen Leistung einzuführen. Geflissentlich ignorieren auch Politik und Gewerkschaften diese seit Jahren erhobene Forderung.
Kinder sind so zum privaten Luxus geworden, den man sich leisten können muss, und zum Klotz am Bein derer, die sich diesen Aufwand nicht leisten können oder nicht leisten wollen.

„HILFE“ STATT ANERKENNUNG DER ARBEIT VON ELTERN FÜR DIE GESELLSCHAFT
Hier schließt sich der Kreis zum Kindergeld. Obwohl in einem echten Generationenvertrag auf gesellschaftlicher Ebene die finanzielle Anerkennung der elterlichen Erziehungsleistung (Erziehungsgehalt) ein zwingendes Gebot ist, wird das Kindergeld anders aufgefasst, nämlich nicht als Gegenleistung, sondern als staatliche Beihilfe zu den durch Kinder entstehenden Sachkosten (Aufwand für Nahrung, Kleidung, Wohnung, heute auch für Betreuungs-, Erziehungs- oder Ausildungsbedarf, z.B. Musikunterricht, Vereinsmitgliedschaften). Es wurde seit 1954 in kleinsten Tippelschritten weiterentwickelt unter Berücksichtigung von Bedürftigkeits- und Einkommensgrenzen.
Ab 1961 wurde Kindergeld auch für zweite Kinder gewährt, ab 1975 schließlich für erste Kinder. Zusätzlich gab (und gibt) es einen steuerlichen Freibetrag, der sich aber erst bei höheren Einkommen auswirkt. Für Alleinerziehende lohnt sich der Kinderfreibetrag ab 30.000 Euro zu versteuerndem Einkommen im Jahr, für Eheleute ab 60.000 Euro. Und zwar, nachdem sie alle Kosten, die sie von der Steuer absetzen können, abgezogen haben.(4). Der zu niedrige Ansatz dieses Freibetrages wurde mehrmals erfolgreich vor dem Bundesverfassungs­gericht beklagt. In seinem Urteil vom 10.11.1998 verfügte das BVerfG verbindlich (Hervorhebungen durch die Fh-Autorinnen):

„Art. 6 Abs. 1 GG gebietet, bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei zu belassen (Anm. der Fh-Autorinnen: also auch der Kinder):
a) Dabei bildet das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum die Grenze für das einkommensteuerliche Existenzminimum, die über-, aber nicht unterschritten werden darf.
b) Das einkommensteuerliche Existenzminimum ist für alle Steuerpflichtigen – unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz – in voller Höhe von der Einkommensteuer freizustellen.
c) Der Wohnbedarf ist nicht nach der Pro-Kopf-Methode, sondern nach dem Mehrbedarf zu ermitteln.“(5)

Im Klartext: Wenn die Lebenshaltungskosten steigen, müssen der Steuerfreibetrag für das Existenzminimum (EM) der Kinder sowie das Kindergeld ebenfalls steigen.

Schon zuvor, 1996, war in einer grundlegenden Reform eine Regelung getroffen worden, in der das Kindergeld mit dem Steuerfreibetrag „ineinandergerechnet“ wurde. Das bedeutet, dass im Ablauf eines Steuerjahres allen Eltern monatlich ein Kindergeld von gleicher Höhe ausbezahlt wird. Nach Abgabe der Steuererklärung für das dann abgelaufene Steuerjahr ermittelt das Finanzamt, ob mit dem ausgezahlten Kindergeld der Gesamt-Anspruch der Steuerfreistellung für das Existenzminimum erfüllt wurde oder ob angesichts höherer Einkünfte ein zusätzlicher Effekt anzuerkennen ist (sog. Günstigerprüfung). Dass wohlhabende Eltern automatisch mehr Geld ausgeben, auch für ihre Kinder (soziokulturelles Existenzminimum), spielt dabei keine Rolle.

JE MEHR EINKOMMENSTEUER ELTERN ZAHLEN, UMSO WENIGER STAAT­LICHE ZUWENDUNG BEKOMMEN SIE TATSÄCHLICH
Die Konstruktion der Ineinanderrechnung von Steuerfreibetrag und Kindergeld bewirkt, dass für jeden steuerpflichtigen Elternteil je nach Höhe des zu versteuernden Einkommens verschieden große Anteile des Kindergeldes aus der Steuerfreistellung resultieren bzw. als reine Zuwendung des Staates zu betrachten sind. Mit anderen Worten: Eltern, die mit ihrem Einkommen unterhalb der Steuerpflicht bleiben, bekommen das Kindergeld zu 100 Prozent „geschenkt“. Mit steigendem Einkommen verschiebt sich intern das Verhältnis von staatlicher „Förderung“ und Freistellungseffekt. Demzufolge sind fast zwei Drittel des gesamten ausgezahlten Kindergeldes von den Eltern selbst erarbeitete Freibeträge (verfassungsrechtlich verfügter Steuer“ausfall“). Nur etwa ein Drittel ist ein milde Gabe des Staates. Dessen ungeachtet listet die Politik regelmäßig die gesamte Summe als „Familienförderung“ auf, während die Leistung, die die Familien mit der Erziehung nachwachsender Generationen erbringen, in diesem Zusammenhang völlig unerwähnt bleibt. Nach Rechnung des der Wirtschaft nahestehenden Ifo-Instituts profitiert der Staat in der Gesamtbilanz von Leistung und Gegenleistung dabei. Über den gesamten Lebenszyklus eines Kindes betrachtet beträgt das Plus für den Staat 77.600 €.(6)

LASTENAUSGLEICH UND STEUERGERECHTIGKEIT
Immer wieder wird gefordert, den „Besserverdienenden“ das Kindergeld zu streichen. Dem steht die verfassungsgemäße Pflicht entgegen, „horizontale Gerechtigkeit“ herzustellen, das heißt, die steuerliche Belastung von Eltern und Kinderlosen in der jeweils gleichen Einkommensstufe im Gleichgewicht zu halten. Hinzu kommt noch die den Eltern durch Familien- und Strafrecht auferlegte Pflicht, ihren Kindern den jeweils „schichtangemessenen“ Unterhalt (soziokulturelles EM, das bei der Besteuerung gemäß sozialrechtlich definiertem EM ohnehin nicht berücksichtigt wird) zu gewähren. Ebenso ungerecht wäre die Einführung eines einheitlichen Kindergeldes auf heutigem Niveau. Bei der damit verbundenen Abschaffung der Kinderfreibeträge würden Familien steuertariflich höher eingestuft und zahlten noch mehr Steuern, aus denen sie ihr Kindergeld mitfinanzierten. Ein Kindergeld, das die Ansprüche aus der Freistellung auch der höchsten Einkommen abdeckt, müsste heute 263 € betragen.

FISKUS PROFITIERT VOM UMSATZ DER KINDER
Ergänzend sei angemerkt: Der steuerliche Freibetrag pro Kind und Jahr beläuft sich seit 2010 auf 7.008 € (= 4.368 € Steuerfreibetrag zur Deckung des sachlichen Mindestbedarfs, also Kosten für Wohnen, Ernährung usw., plus 2.640 € Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf). Wenn Eltern für diesen Betrag einkaufen, zahlen sie automatisch die darin enthaltene Mehrwertsteuer an den Finanzminister zurück. Wenn hier als Beispiel für eine Musterrechnung 10 Prozent angesetzt werden (gemischt aus 7 Prozent für Nahrung und 19 Prozent für Non-Food-Artikel), zahlen diese Eltern bei dem Einkauf eine Steuer von 637 €, nur, weil sie Kinder aufziehen. Ebenso fließen von einem monatlichen Kindergeld von 184 € (Regelsatz für erste und zweite Kinder) über die Mehrwertsteuer 16,72 € direkt an den Staat zurück.

Unterm Strich bleibt festzuhalten, dass der Begriff „Förderung“ im Zusammenhang mit den meisten Zuwendungen des Staates an die Familien verfehlt und irreführend angewandt ist.

Fußnoten:
1) Wilfrid Schreiber: Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft : Vorschläge d. Bundes katholischer Unternehmer z. Reform d. Sozialversicherungen. Verlag Bachem (Köln 1955).
Der unveränderter Nachdruck ist im Internet herunterzuladen unter http://www.bku.de/download?dokument=1&file=27_disk28schreiber.pdf
2) Peter Quante: Grundsätze der Versorgung, Versicherung und Fürsorge. In: Sozialpolitik und Sozialreform. Ein einführendes Lehr- und Handbuch der Sozial­politik. Hrsg. Erik Boettcher. Tübingen (1957). S. 139
3) Wilfrid Schreiber (1904–1975), Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Werdegang: 1921–1927 umfangreiche Studien der Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften, der Geisteswissenschaften (Philosophie und Kunstgeschichte) sowie der Mathematik und der Physik; ab 1922 als freier Schriftsteller und als (Rundfunk-)Journalist tätig; ab 1942 im Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda; ab 1947 erneutes Studium wirtschaftlicher Sozialwissenschaften. 1949–1960 Geschäftsführer des Bundes Katholischer Unternehmer; ab 1955 Privatdozent und außerordentlicher Professor an der Universität Bonn, 1960–1972 Professor für Sozialpolitik an der Universität Köln.
4) Siehe auch: „Wie rechnet das Finanzamt?“ unter http://www.vlh.de/wissen-service/steuer-abc/wie-funktioniert-das-mit-dem-kinderfreibetrag.html
5) Quelle: https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/ls19981110_2bvl004293.html
6) Martin Werding, Herbert Hofmann: Die fiskalische Bilanz eines Kindes im deutschen Steuer- und Sozialsystem : Studie im Auftrag der Robert Bosch Stiftung, ifo Forschungsberichte 27, ifo Institut für Wirtschaftsforschung, 2005. Hier: Seite XV und S. 54.
Im Internet: http://www.cesifo-group.de/DocDL/ifo_Forschungsberichte_27.pdf

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