Die Depression bei Müttern und unser Sozialrecht (Fh 2011/3)

von Dr. Johannes Resch

Eine Depression ist eine psychische Störung, die durch Lust- und Interesselosigkeit, Unfähigkeit zur Freude und eine Hemmung von Antrieb und Denken gekennzeichnet ist. Folgen sind oft die Vernachlässigung von Alltagsaufgaben und die persönliche Isolation.
Eine solche Störung kann Symptom einer Geistes- oder einer Gehirnkrankheit sein, aber auch eine Reaktion auf körperliche Erkrankungen oder einen Schicksalsschlag, z. B. den Verlust eines geliebten Menschen. All das soll hier nicht erörtert werden.

Die häufigsten Depressionen sind anderer Art. Sie sind lebensgeschichtlich bedingt. Die Ursachen liegen einesteils in prägenden Kindheitserfahrungen und zum anderen in späteren, lang anhaltenden psychischen Belastungen. Meistens wirkt beides zusammen. Es besteht eine Fehlentwicklung der Seele. Diese Störungen werden als neurotische Depression oder depressive Neurose und neuerdings als Dysthymie bezeichnet.
Neurotische Depressionen sind bei Frauen zwei- bis dreimal so häufig wie bei Männern und kommen am häufigsten im mittleren Lebensalter vor (etwa zwischen 20 und 50). Sie sind heute besonders häufig bei Müttern mehrerer Kinder. Das überrascht zunächst, denn in der älteren Literatur wurde meist eine Häufung bei kinderlosen Frauen beschrieben.

Dieser Wandel lässt vermuten, dass tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen das Leben der Frauen beeinflusst haben. Ein Blick auf unsere Sozialgesetzgebung und deren Folgen macht schlagartig deutlich, was sich hier verändert hat:
Die Frauenbewegung hat erkämpft, dass Frauen heute nahezu gleiche Chancen im Erwerbsleben haben wie Männer – solange sie kinderlos sind. Sobald sie Kinder haben und diese versorgen, werden sie zu Außenseiterinnen der Gesellschaft. Sie werden zeitlich überfordert, wenn sie erwerbstätig bleiben, oder sie verarmen und werden verhöhnt, wenn sie sich ihren Kindern widmen. Dabei gibt nicht etwa ihr weibliches Geschlecht den Ausschlag, sondern ihre Tätigkeit, denn wenn Männer ihre Kinder betreuen, geht es ihnen genauso. Noch vor 100 Jahren mehrte die kinderbetreuende Mutter den Wohlstand der Familie, wie der erwerbstätige Ehemann auch. Beide Eltern wussten, dass sie durch Kindererziehung für das Alter und den Krankheitsfall vorsorgten, da sie auf ihre Kinder zählen konnten. So war die Erziehung der Kinder nicht nur vom Vater, sondern von der ganzen Gesellschaft hoch geachtet.

Dieser Zustand änderte sich zunächst langsam, aber dann durchgreifend durch die Rentenreform Adenauers 1957. Mit einem Schlag hatte die Erziehungsleistung keinen wirtschaftlichen Wert mehr. Die erwachsen gewordenen Kinder wurden gesetzlich verpflichtet, fremden – darunter auch kinderlosen – Personen Renten zu bezahlen, die meist sogar höher waren als die Rente der eigenen Eltern. Aus dem von den Müttern erarbeiteten wirtschaftlichen Gewinn war plötzlich ein Verlust geworden. So ist unser Sozialrecht im Grunde ein Programm zur Verarmung von Familien. Zunächst blieb diese Erkenntnis eher im Unterbewusstsein hängen, hatte aber trotzdem verheerende Folgen für das Ansehen der Mütter. Auch brave Ehemänner sahen in ihren Frauen nicht mehr die Garanten sozialer Sicherheit, sondern eine Gefährdung ihres Wohlstands. Die Mütter wiederum schoben die Schuld für ihre Abwertung oft auf die Väter, obwohl diese ebenso wie die Kinder zu den Opfern dieser Entwicklung zählen. Auf allen Seiten sammelte sich immer mehr Zündstoff für Ehe- und Familienkonflikte an.

Damit nicht genug. Nicht nur innerhalb der Familie veränderte sich die psychologische Situation. Infolge der gesetzlichen Abwertung ihrer Tätigkeit wurden Mütter von der Restgesellschaft wegen fehlender Karrierechancen immer mehr als zurückgebliebene Dummchen betrachtet und behandelt.

Zynischerweise sind es meist beruflich erfolgreiche Frauen, z. B. in den Medien, die sich für schlauer halten als „die Dummchen am Herd“, selbst aber „zu dumm“ sind, um zu bemerken, dass diese ihre hohen Rentenansprüche erarbeiten. Auf die Spitze wird der Zynismus getrieben, wenn neben anderen Wohlfahrtsorganisationen sogar kirchliche Organisationen wie Diakonisches Werk und Caritas sich an dieser Verhöhnung beteiligen (vgl. Fh 1/2010, S. 1). So bestreiten sie heute den Müttern das Recht auf lächerliche 150 € Betreuungsgeld, während ihre eigenen Betreuungseinrichtungen für einen Teil der gleichen Tätigkeit (die Tagesbetreuung an Wochentagen) den 7- bis 8-fachen Betrag kassieren. Zur Begründung dieser Missverhältnisse werden getürkte Studien erstellt, die die Überlegenheit „professioneller“ Kinderbetreuung beweisen sollen (vgl. Niemand spricht von „Krippenprämie“ in Fh 1/2010, S. 6) Die Wirklichkeit zeigt dagegen, dass keine Professionalität den Wert liebender Eltern ersetzen kann.

Bei diesen Verhältnissen ist es erstaunlich, dass es nicht noch mehr depressive Mütter gibt. Aber auch das ist kein Trost. Die medizinische Erfahrung zeigt, dass depressive Mütter eine depressive Entwicklung ihrer Kinder fördern. Unsere Sozialgesetzgebung und die daraus resultierende Demontage der Familie sind nicht nur ungerecht gegen­über heutigen Eltern. Sie gefährden auch die Gesundheit künftiger Generationen.

Die Frage zum Schluss: Gibt es überhaupt noch einen Ausweg? – Ich kann mir den nur so vorstellen, dass sich die Mütter nicht mehr ducken und verkriechen, sondern wieder Mut und eine Aufgabe darin finden, bessere Bedingungen für Mütter zu fordern, vor allem eine Anerkennung ihrer Leistung nicht nur in Sonntagsreden, sondern als zu bezahlende Arbeit. Sie werden damit auch Gehör finden, wenn sie nur selbstbewusst und beharrlich genug auftreten. Unsachlich brauchen sie dabei gar nicht zu werden, denn die Fakten sprechen für sich. Sie werden dann auch auf Unterstützung der Väter stoßen, die ja selbst zu den Betrogenen gehören. Eine Organisation, die sich die Aufgabe gestellt hat, hier als Katalysator zu wirken, ist zum Beispiel unser Verband.

Anmerkungen:
Der Autor ist Arzt für Neurologie und Psychiatrie und Arzt für Arbeits- und Sozialmedizin. An der Universität Heidelberg befasste er sich ausführlich mit dem deutschen Sozialsystem. Aufgrund seiner Analyse sieht er Zusammenhänge zwischen Mängeln im Sozialsystem und Depressionen bei Müttern. Ein Grund für sein ehrenamtliches familienpolitisches Engagement.
Dieser Beitrag erschien auch unter:
www.muetterblitz.de/Ausgabe0210/Spurensuche/depression.masp

Literatur: Stoppe, Gabriela; Bramesfeld, Anke; Schwartz, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.): Volkskrankheit Depression. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006. ISBN 978-3-540-31749-4