Gedanken zum unbefristeten „Mammut-Streik“ in Kitas, Horten und anderen Einrichtungen (Fh 2015/1)

von Ulrike Brandhorst, Gertrud Martin und Gudrun Nack

Seit 8. Mai wird bundesweit gestreikt. Die Gewerkschaft ver.di fordert für die rund 240.000 Beschäftigten im kommunalen Sozial- und Erziehungsdienst eine höhere Eingruppierung, die zu Einkommensverbesserungen von durchschnittlich zehn Prozent führen würde. In einer Urabstimmung haben die Mitglieder den unbefristeten Streik beschlossen. Zum Streik aufgerufen sind unter anderem Erzieherinnen und Erzieher in Kitas, Horten und an offenen Ganztagsschulen, Sozialarbeiter und Sozialpädagoginnen in Jugendzentren, in der Schulsozialarbeit und im allgemeinen Sozialdienst, Erzieher und Heilpädagoginnen in Heimen für Kinder und Jugendliche sowie Beschäftigte in Einrichtungen der Behindertenhilfe.(*)

Die vielen öffentlichen Berichte und Stellungnahmen, mit denen dieser Streik begleitet wird, regten uns zu folgenden Überlegungen an, die wir hier aufführen möchten (leider recht unaufgearbeitet – zur Aufarbeitung fehlt wegen des Streiks die Zeit ☺):

In der Begründung zu Zweck und Ziel außerhäuslicher Betreuung und Erziehung werden immer zwei Aspekte vermischt: zum einen die Bedeutung der gemeinsamen Erziehung/Bildung der Kinder in „Einrichtungen“ und zum anderen die Notwendigkeit einer Betreuung der Kinder, wenn die Eltern erwerbstätig sind.

Punkt 1 ist für die gesamte Gesellschaft interessant, daher ist es in Ordnung, wenn das Angebot vom Staat mit Steuern subventioniert wird, die von allen Gesellschaftsmitgliedern eingezogen werden. Damit meinen wir ein Angebot von täglich ca. vier Vormittagsstunden für Kinder von 3 Jahren bis Schuleintritt (dann werden sie ja ohnehin alle gemeinsam auf Staatskosten beschult).

Punkt 2 muss jedoch viel komplexer betrachet werden. Vom Wohl der Kinder mal ganz abgesehen ist es auch für die Gesellschaft als Ganzes nicht unbedingt von Vorteil, wenn Kinder unter drei Jahren außerhalb der Familie betreut werden bzw. wenn Kinder im Vorschul- oder Schulalter nachmittags außer Haus betreut werden. Das ist interessant für die Wirtschaft bzw. für einen Teil der Familien: Für die Wirtschaft, weil so mehr „Arbeitspotential“ bereitgestellt wird, für manche Familien, weil beide Eltern erwerbstätig sein müssen oder wollen.

Hier müssen die Gedanken ansetzen:
Wollen wir eine Gesellschaft, in der es Familien gibt, in denen beide Elternteile von Kindern unter 15 Jahren erwerbstätig sein müssen?

Inwieweit sollte die Wirtschaft – sprich die Unternehmen – mit in die Pflicht genommen werden, wenn es um Kinderbetreuung geht? Immerhin profitieren sie von der Arbeitskraft der Eltern, die durch die von der Allgemeinheit stark subventionierte Betreuung freigesetzt wird. Wollen wir es mit unseren Steuergeldern ermöglichen, dass zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter für einen Spottlohn Schichtarbeit leistet, weil sie einen billigen 24-Stunden-Kita-Platz zur Verfügung hat? Sollte die Politik nicht darauf hinarbeiten, dass ArbeitnehmerInnen, die in der Verantwortung für die Erziehung eigener Kinder stehen und dafür entsprechend Zeit investieren müssen, in der Folge daraus keine Nachteile beim Erwerbseinkommen sowie beim Rentenanspruch in Kauf zu nehmen haben? Zum Beispiel durch ein Erziehungsgehalt?
Und sollten die Eltern nicht stärker in die Finanzierung der Betreuungsplätze eingebunden werden, wenn sie ohne finanzielle Notwendigkeit zwei Vollzeit-Arbeitsplätze besetzen und dafür eine Vollzeitbetreuung für ihre Kinder in Anspruch nehmen? Denn zur Zeit deckt der Beitrag der Eltern zur Kinderbetreuung ja nur ein Bruchteil der tatsächlichen Kosten. Jeder Kita-Platz wird mit 500–1.500 Euro subventioniert. Das sind Kosten, die über Steuern ALLE Gesellschaftsmitglieder tragen, unabhängig davon, ob sie Kinder haben oder nicht bzw. auch unabhängig davon, ob sie ihre Kinder ohne staatliche Subventionierung vornehmlich zu Hause betreuen und dafür auf eine Erwerbstätigkeit verzichten oder nur eingeschränkt einer Erwerbstätigkeit nachgehen.

Diese Fragen sind komplex und sensibel, aber sie müssen gestellt werden.

Aus Sicht unseres Verbands war der Streik der ErzieherInnen längst überfällig: Sie sitzen mit den Eltern im gleichen Boot, denn beider Arbeit ist essenziell für unsere Zukunft, wird aber in der finanziellen Anerkennung gleichermaßen unterbewertet. Mit der Absicht, die öffentlichen Angebote der Kinderbetreuung massiv auszubauen, bei kindverträglichen Personalschlüsseln und potenziell rund um die Uhr (ganz so, wie Eltern das eben tun!), muss der Staat sich verheben. Erst recht mit dem gesetzlich verankerten Kita-Anspruch für alle Zwei- bis Dreijährigen. Hier liegen wir derzeit bei noch unter 40 Prozent. Man muss kein Mathematiker sein, um abzuschätzen, was es bedeuten würde oder wird, wenn die betreffenden Eltern – wie von der Politik propagiert – zu 100 Prozent in die Vollzeit-Erwerbsarbeit wechseln, ihre Kinder in die Kitas bringen und gegebenenfalls nicht vorhandene Plätze gerichtlich einklagen. Möglicherweise bekäme auf diesem Umweg das viel geschmähte Betreuungsgeld plötzlich eine starke Lobby und erführe eine deutliche, unumgängliche Erhöhung. Das wäre für die öffentliche Hand allemal günstiger. Und es wäre für die betroffenen Kinder keine zweitbeste Lösung: Für Kinder unter drei Jahren ist die elterliche Betreuung normalerweise die erste Wahl und die Krippe der Ersatz. Die viel zitierte frühkindliche Bildung geschieht am besten in der elterlichen Obhut. Das Erlernen der „Mutter“sprache ist ein Menschenrecht und zusammen mit dem Erwerb des lebenslang stabilisierenden Urvertrauens die Basis für alles weitere Gedeihen.

Es wäre doch schön, wenn der Streik der ErzieherInnen dazu beitrüge, die Dinge wieder vom Kopf auf die Beine zu stellen!

Quelle:
* ver.di-Pressemitteilung vom 6.5.2015