Jürgen Borchert verlässt die Richterbank (Fh 2015/1)

von Dr. Johannes Resch

Richter machen in der Regel keine Politik. Sie sprechen „Recht“. Was sie darunter verstehen, steht im Gesetz. Ob das Gesetz gerecht ist, interessiert Richter in der Regel nicht. Nur wenn Gesetze grobe Verstöße gegen die im Grundgesetz verankerten Grundrechte enthalten, können Richter ein Gesetz in Frage stellen oder sollten das zumindest tun. Allerdings geschieht das selten. Die heutige Arbeitsbelastung der Richter lässt es kaum zu, im Rahmen eines „Vorlagebeschlusses“ beim Bundesverfassungsgericht die Überzeugung, eine gesetzliche Regelung sei verfassungswidrig, sachgerecht zu begründen. Denn bloße Zweifel genügen für eine solche Vorlage nicht.

Jürgen Borchert ist kein Richter, auf den diese Beschreibung zutrifft. Im Dezember 2014 wurde er als Richter am Landessozialgericht Hessen pensioniert, wie es mit 65 Jahren die Regel ist. Das ist ein geeigneter Anlass für einen Rückblick. Ich wage zu behaupten, dass kein anderer Richter unterhalb des Bundesverfassungsgerichtes die deutsche Sozialpolitik so beeinflusst hat wie er. Er hat ohne Umschweife seine Finger immer wieder in die seit Jahrzehnten bis heute schwärenden Wunden sozialer Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft gelegt und war an mehreren Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes beteiligt, die zumindest im Ansatz zu Korrekturen geführt haben („Trümmerfrauenurteil“ von 1992, Urteil zur Pflegeversicherung 2001, Urteil zu Hartz IV 2010).

Borchert hat sich schon in seiner Dissertation („Die Berücksichtigung familiärer Kindererziehung im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung: Ein Beitrag zur Rentenreform“, 1981) mit gebotener Gründlichkeit mit den Auswirkungen des deutschen Rentenrechts auf die wirtschaftliche Situation der Familien auseinandergesetzt. Sein Urteil war damals und ist bis heute verheerend: Die Verletzung des Generationenvertrages durch die Gesetzliche Rentenversicherung nennt er „Transferausbeutung der Familie“. Die „Gesamtevaluation familienpolitischer Leistungen“, mit der wirtschaftshörige Institute 2013 Wohltaten für die Familien von 200 Mrd. € vorgaukelten, nennt er „wissenschaftlichen Müll“. Den Kirchen bescheinigt er anhand ihrer Papiere zu sozialen Fragen („Familiendenkschrift“ der EKD 2013, gemeinsames „Sozialwort“ der Kirchen 2014), dass ihnen die „bitterbösen Folgen für die Schwächsten der Schwachen, nämlich die Kinder, offenbar völlig unbekannt sind“. Die „Orientierungshilfe“ der EKD bezeichnet er als „Verirrungsleitfaden“. Beide Kirchen vermieden es, sich mit den „herrschenden Eliten“ anzulegen.

Borcherts Horizont beschränkt sich nicht auf die Familienpolitik. Er sieht auch die Begünstigung hoher Einkommen und von Kapitalgewinnen als eine Ursache der immer stärker klaffenden Schere zwischen Arm und Reich, wie sie aktuell wieder von dem französischen Ökonomen Thomas Piketty gründlich beschrieben wurde. Aber er sieht zusätzlich eben auch die familienpolitische Dimension zum Nachteil von Kindern und Eltern vor allem durch das deutsche Rentenrecht.

Ganz aktuell warnt Borchert auch vor den Folgen des geplanten Freihandelsabkommens TTIP, das er als „neofeudalen Putsch“ charakterisiert. In diesem Punkt steht er in einer Reihe mit fast allen Organisationen, die nicht von der Wirtschaftslobby abhängig sind. Es bleibt zu wünschen, dass auch seine sozialpolitischen Analysen in Zukunft noch mehr auf breites Verständnis stoßen. Es ist zu hoffen, dass Borchert die neu gewonnene Freiheit dafür nutzt, noch stärker seine Kraft und sein Wissen für die Korrektur der Schieflagen in Politik und Gesellschaft einzusetzen.

Borchert ist einer der ganz wenigen Juristen, die einerseits juristisch sachliche Arbeit leisten, wie seine Erfolge beim Bundesverfassungsgericht zeigen, aber andererseits auch medienwirksam provozierend soziale Missstände auf den Punkt bringen können, etwa wenn er sinngemäß formuliert: „Der Familie wird die Sau vom Hof getrieben und auf Antrag werden zwei Schnitzel zurückgeliefert, die dann als Leistungen für Familien gepriesen werden“.

Lesetipp: Jürgen Borchert, „Sozialstaatsdämmerung“ (2013).
Vorgestellt in Fh 3/2013