Psychische Erkrankungen und gesundheitsbedingte Frühverrentung (Fh 2014/2)

Ein Kommentar zur Studie der Psychotherapeutenkammer (BPtK) zur Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit (1)

von Marlies Wildberg, Dipl-Psych., Psychologische Psychotherapeutin

Die BPtK hat erstmalig die Bedeutung psychischer Erkrankungen für Frühverrentung (Erwerbsminderungsrente) anhand
der Daten der Deutschen Rentenversicherung (DRV) ausgewertet. 2012 war nahezu jede zweite Frühverrentung (42 Prozent) durch psychische Erkrankungen verursacht. Depressionen waren – auch im Vergleich zu körperlichen Krankheiten – die häufigste Diagnose (bei Frauen fast die Hälfte aller psychisch bedingten Frühverrentungen). Bei Männern spielten nach De­pres­sionen auch Alkoholerkrankungen eine wesentliche Rolle. Das Durchschnittsalter bei psychisch bedingter Frühverrentung lag bei 49 Jahren und damit unter dem Durchschnitt für alle Ursachen von 50 Jahren bei Frauen und 52 Jahren bei Männern. Auch die durch psychische Erkrankungen bedingten Fehltage haben sich von 2000 bis 2012 fast verdoppelt.

Wo liegen die Ursachen für diese Entwicklung, die bevorzugt Frauen betreffen?
Die Maßnahmen, die die Studie vorschlägt, nämlich mehr Prävention, rechtzeitige Behandlungs- und Rehabilitationsangebote sowie eine bessere Vernetzung der Maßnahmen, sind zwar allesamt sinnvoll und notwendig, setzen meines Erachtens jedoch nicht bei den Ursachen an. Ursachenforschung war leider nicht Gegenstand der Studie, müsste aber dringend erfolgen, nicht zuletzt wegen der voraussichtlich in den nächsten Jahren noch ansteigenden Kosten.

Ungeachtet eines möglichen Aufschreis der Gender-Mainstreaming-Lobby in Politik und Wirtschaft möchte ich ein paar Hypothesen aufstellen, die sich im Laufe meiner jahrzehntelangen Erfahrung als Psychotherapeutin und als Mutter angesammelt haben:

  • Eine depressive Störung tritt oft dann auf, wenn der persönliche Handlungsspielraum eingeengt und fremdbestimmt wird, wenn also eine Person meint, die eigene Situation nicht mehr kontrollieren zu können. Diese Störung kann sowohl auf einer Überforderung (burn-out) als auch auf einer Unterforderung (bore-out) beruhen.
  • Überforderungssituationen können ebenso im Erwerbsberuf (die eigene Leistungsfähigkeit genügt nicht den Anforderungen) wie auch durch Doppelbelastungen in verschiedenen Anforderungs­situa­tionen (Partnerschaft, Familie, Kinder und Beruf) auftreten.
  • Unterforderungssituationen können auftreten, wenn eine Person z.B. langzeitarbeitslos ist ohne Perspektive auf spätere Berufsausübung oder andere Sinnfindung im Leben, oder wenn sie durch monotone Tätigkeiten unterfordert ist.
  • Durch eine Verdichtung und Beschleunigung in unserer Arbeitswelt verlieren immer mehr Menschen den Überblick und fühlen sich überfordert. Andere wollen Kindererziehung und Erwerbstätigkeit unter einen Hut bringen und fühlen sich zunehmend unter Stress, weil sie erfahren, dass das alles nicht so gut funktioniert wie propagiert. Gerade bei Frauen, die Beruf und Kindererziehung perfekt mitein­ander kombinieren wollen, erlebe ich in der Praxis immer häufiger Frustration und Versagensgefühle. Der steigende Druck, neben der Familienarbeit berufstätig zu sein, sei es, weil es die Gesellschaft erwartet, weil es dem eigenen Wunsch entspricht oder weil es die finanzielle Situation erfordert, erzeugt ein Überforderungserleben bei vielen Frauen und birgt einen nicht unerheblichen Stressfaktor für die gesamte Familie. Wenn dann noch medial suggeriert wird, wie einfach das alles miteinander zu vereinbaren ist, seit es Krippen, Kindergärten und Ganztagsschulen gibt, wird die Frustration verstärkt.
  • Die ständige Geringschätzung und Abwertung der höchst an­spruchsvollen Erziehungsarbeit und die Auslagerung der Kinder in Fremdbetreuung erhöht noch die Selbstzweifel und Versagensgefühle sowohl bei erwerbstätigen als auch bei nicht erwerbstätigen Müttern.
  • Wer vielleicht noch stark genug ist, ein paar Jahre nicht erwerbs­tätig zu sein, muss immer mehr mit einem Armutsrisiko leben, zumal der Ehemann arbeitslos werden kann, sich trennen kann (das Scheidungsrecht wurde ebenfalls im Sinne Vollzeit-Erwerbstätiger reformiert), der Gesetzgeber das eheliche Solidaritätsprinzip in der Steuer­gesetzgebung möglicherweise eines Tages aufhebt und sicher die Rente geringer wird. Mit diesen Unsicherheiten und Ängsten müssen die meisten Mütter in unserem Wohlstandsstaat heute leben.

In die Therapie kommen diejenigen, die den Überforderungen nicht mehr gewachsen sind, wobei oft eine familiäre Veranlagung zu Depressionen eine Rolle spielt.
Als Therapeuten versuchen wir mit Hilfe verschiedener Verfahren, den Menschen wieder in die Lage zu versetzen, sein Leben selbst­bestimmt und aktiv zu gestalten und möglichst wieder am Erwerbs­leben teilzunehmen. Leider stehen diese Zielvorstellungen oftmals im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Vorgaben im täglichen Alltag.

Welche Lösungen gibt es also?
Als einen Denkanstoß zitiere ich aus einer Analyse von Dr. Johannes Resch:
„Eine direkte Bezahlung der Erziehungsarbeit ist nahezu zwangsläufig aus dem geltenden Rentenrecht ableitbar und eine Forderung sozialer Gerechtigkeit für Familien. Die heutige Abwertung der Erziehungsleistung ist aber auch die weitaus wichtigste Ursache der bestehenden Benachteiligung von Frauen, da sie in den meisten Fällen die Hauptlast der Erziehung tragen. Die immer wieder vorgebrachte Forderung, eine Gleichberechtigung der Frauen dadurch zu erreichen, dass die Väter in gleichem Umfang zur Kinderbetreuung herangezogen werden wie die Mütter, geht am Kernproblem vorbei. Abgesehen davon, ob eine solche Forderung überhaupt realistisch ist, wäre bei einer Verwirklichung die Benachteiligung nur zwischen den Eltern anders verteilt. Die Nichtbewertung der Erziehungsleistung selbst und damit die Benachteiligung der Familien bliebe unverändert. Damit ist das von vornherein ein falscher Lösungsansatz. Es geht nicht um die Umverteilung von Nachteilen, sondern um deren Beseitigung.“(2)
Diesen Ausführungen kann ich nur zustimmen.

Wenn die Erziehungsarbeit gleichberechtigt finanziell behandelt würde, könnte die Gesamtgesellschaft Kosten sparen: bei den Kitas, bei den Rentenkassen, bei der ärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung, bei den Jugendämtern und bei der Sozialarbeit …

Daneben wäre es wünschenswert, wenn die Arbeitsplatzanforderungen besser mit den Bedürfnissen der Arbeitenden abgestimmt werden könnten. Autonomes und selbstbestimmtes Arbeiten in Bezug auf zeitliche und inhaltliche Gestaltung wäre für die psychische Gesundheit von Vorteil. Auch vermehrte Teilzeitangebote für Männer und Frauen mit Kindern oder ältere Arbeitnehmer sind hilfreich.

Quellen:
(1) BPtK-Studie zur Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit. Psychische Erkrankungen und gesundheitsbedingte Frühverrentung. Berlin, 2013.

(2) Dr. Johannes Resch: Vom Generationenvertrag zum Generationenbetrug; Hintergründe, Folgen, Auswege. 2011, S. 34; www.johannes-resch.de/Generationenbetrug

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