Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität (Fh 2013/2)

von Monika Bunte

Eine Warnung vorab: Dieser Artikel ist knochentrocken, aber er bekommt zum Schluss ein Sahnehäubchen!
Vor zwanzig Jahren ging der Versuch, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) „richtig“ zu berechnen, in die erste Runde. Es sollten vom Statistischen Bundesamt nicht nur die Güter und Dienstleistungen, die bezahlt „über den Markt“ gingen, rechnerisch erfasst werden, sondern auch die fürs Wohlsein wesentlichen, aber unbezahlten. Das sollte in Form einer „Satellitenrechnung“ geschehen. Damals stand dazu in unserer Verbandszeitschrift dhg-Rundschau,(1) dass mit Satellit das Zweitrangige, Nachgeordnete gemeint sei, und unser Vorschlag war, von „Basalrechnung“ zu sprechen: Haus- und Familienarbeit als Basis der Wirtschaft.
Um es kurz zu machen: Sie rechneten und rechneten und kriegten es nicht hin. Das Projekt Satellitenrechnung verschwand in der Ablage.

Aber es wurde etwas Neues kreiert. Eine ganzheitliche Methode zur Wohlstands- und Fortschrittsmessung sollte durch die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ gefunden werden.(2) Diese Kommission wurde 2010 eingesetzt. Enquete-Kommissionen sind Sondergremien des Bundestages. Abgeordnete und Sachverständige aus Wissenschaft und Praxis suchen bei vielschichtigen Themen – über die ständigen Ausschüsse des Bundestages hinaus – bis zum Ende der jeweiligen Wahlperiode Antworten auf die gestellten Fragen. Sie legen dem Bundestag einen Bericht vor und geben konkrete politische Handlungsempfehlungen als Grundlage für die Gesetzgebung.

Die oben genannten Fragen seien hier kurz vorgestellt: Was macht den Wohlstand und die Lebensqualität unserer Gesellschaft aus? Wird es uns gelingen, unsere Umwelt und unser Klima zu schützen und gleichzeitig unseren Wohlstand zu erhalten? Wie muss die Wirtschaft beschaffen sein, um Wohlstand und Fortschritt zu garantieren? Schon diese kurze Auflistung der Fragen zeigt, dass nahezu alle Lebensbereiche auf den Seziertisch mussten: Konsumverhalten und Lebensstil, Wirtschaft und Arbeitswelt.
Im Faltblatt des Deutschen Bundestages bezüglich Enquete-Kommission steht ausdrücklich „Arbeitswelt“, womit mal wieder der Erwerbsbereich gemeint ist. – Mit der Einrichtung der Enquete-Kommission reagiert der Bundestag auf die weitverbreitete Kritik am BIP als einzigem Wohlstandsindikator, wobei – wie wir wissen – soziale, kulturelle und ökologische Aspekte unter den Tisch fallen und die Familienhausarbeit einschließlich häuslicher Erziehung und Pflege keine Rolle spielt.
Die Mitglieder der Enquete-Kommission wollten Wege aufzeigen, ob und wie Wachstum und die Belastung von Umwelt und Klima dauer­haft entkoppelt werden können. Kann der technische Fortschritt helfen, dass bei weiterem Wachstum der Ressourcenverbrauch sinkt? Welche sozialen Wirkungen könnten eintreten, besonders im Hinblick auf einkommensschwache Haushalte? Welche Rahmenbedingungen müssen von Seiten der (Ordnungs-)Politik gesetzt werden? Zum Beispiel müsste das Verursacherprinzip gestärkt werden, d.h. die Haftung der Verursacher von Schäden. Nachhaltigkeitsrisiken müssten berücksichtigt werden, und wir alle müssten auf künftige Knappheiten vorbereitet werden. Und alles, alles müsste sozial ausgewogen sein.

In der Bundesdrucksache 17/3853 war der gewaltige Auftrag auf fast fünf Seiten komprimiert. Seit 2010 gab es eine Fülle von Studien, Expertisen, Gutachten und Stellungnahmen für die fünf Projektgruppen der Enquete-Kommission. Im Mai 2013 legte sie ihren Abschlussbericht vor.(3) Künftig sollen zehn Indikatoren verwendet werden, um „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ zu messen. Die 16 Mitglieder des Bundestages und die 16 externen Sachverständigen standen vor einem Grunddilemma: „Vielfalt und Breite sollten ge­wahrt bleiben, ohne gleichzeitig durch Tiefe und Komplexität zu überfordern“.(4)

Kurzum: es wird – wegen der Komplexität – auch fürderhin keinen alleinigen Gesamt­indikator geben. Aber der Wohlstand soll dreifach gemessen werden: nämlich in seiner materiellen, sozialen und ökologischen Dimension. Beim materiellen Wohlstand sollen die Einkommens- und Vermögensverteilung berücksichtigt werden, ebenso die Schuldenstandsquote und die Netto­investitionsquote. Die finanzielle Nachhaltigkeit im Privatbereich wird erschlossen durch Berücksichtigung der Kreditvergabe und der Immobilienpreise. Bei der sozialen Dimension spielen die Erwerbstätigenquote und die Gesundheits­situation eine Rolle. Die Qualität von häuslicher Erziehung und Pflege taucht nicht auf. – Jetzt wird´s schwierig: ein Freiheitsmaß – was immer das ist – soll durch den Weltbank­­indikator „Voice & Accountability“ (Mitsprache und Verantwortlichkeit) ausgedrückt werden.(5) Die ökologische Dimension des Wohlstands soll u.a. durch die Treib­haus­gasemissionen erfasst werden.
Insgesamt kommen bei den drei Dimensionen zehn Indikatoren zusammen, die „W³Indikatoren 2013“:
• Materieller Wohlstand
– Einkommensverteilung
– Bruttoinlandsprodukt
– Staatsschulden
• Soziales / Teilhabe
– Freiheit
– Gesundheit
– Bildung
– Beschäftigung
• Ökologie
– Treibhausgase national
– Stickstoff national
– Artenvielfalt national (6)

Der Bericht der Enquete-Kommission ist ein Wunschkatalog. Die Kommission empfiehlt, die Bundesregierung möge einmal im Jahr einen Wohlstandsbericht vorlegen, statt in loser Folge Einzelberichte über verschiedene oben genannte Aspekte.
Meine Meinung: Egal, was die Politik macht, es ist ganz schwierig, alle zehn Indikatoren gleichzeitig zu verfehlen, so dass wir immer von Erfolgen hören werden.

Jetzt kommt das Sahnehäubchen:
Im kleinen Himalaya-Königreich Bhutan heißt das Staatsziel „Bruttonationalglück“.(7) Das ist das Gleichgewicht zwischen materiellem Fortschritt und spirituellem Wohlergehen. In einer Umfrage zum Wohlergehen bezeichnen sich 68 % der Befragten als glücklich.(8) Während konventionelle Modelle das Wirtschaftswachstum zum herausragenden Kriterium politischen Handelns machen, nimmt die Idee des Bruttonationalglücks an, dass eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft nur im Zusammenspiel von materiellen, kulturellen und spirituellen Schritten geschehen kann.
Wo steckt in den W³Indikatoren der Enquete-Kommission die spirituelle Dimension?

Quellen:
1) dhg-Rundschau 1/1993: Das Bruttosozialprodukt und die Basis der Wirtschaft
2) Dem Artikel liegt das Faltblatt der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ zugrunde. Info: www.bundestag.de/bundestag/aus
schuesse17/gremien/enquete/wachstum/index.jsp
3) Deutscher Bundestag Drucksache 17/13300 – 17. Wahlperiode (03.05.2013): Schlussbericht der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“, 844 Seiten. Online: www.bundestag.de/bundestag/gremien/enquete/wachstum/Schlussbericht/index.html
4) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.01.2013, Nr. 24, S. 11: „Neue Maßzahlen für den Wohlstand“
5) wie 3), S. 261ff
6) wie 3), S. 28ff
7) „What is ‚Gross National Happiness‘ ?“ Simple­show (ein Video-Erklärformat), gestaltet von Morten Søndergaard, im Internet veröffentlicht vom Gross National Happiness Fund am 13.12.2010, siehe http://www.gnhfund.com
8) Spiegel online 23.8.2008: www.spiegel.de/politik/ausland/bhutan-im-land-des-bruttosozialgluecks-a-543004.html

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