Brauchen Kinder vor allem Gleichaltrige? – Fehlende enge Bindungen zu Erwachsenen könnten ein Nährboden für Gewalt sein (Fh 2010/4)

von Susanne Wiegel

An der Heinrich Heine Universität Düsseldorf veranstaltete das Familiennetzwerk vom 11. bis 13. Juni 2010 eine internationale Tagung mit dem Titel: Das Geheimnis erfolgreicher Bildung – Kindererziehung als Schlüsselfaktor. (1)

In Vorträgen, Diskussionen, Gesprächen und Filmen wurden verschiedene Facetten der kindlichen Entwicklung mit ihren Folgen betrachtet. Durch die unterschiedlichen Blickwinkel entstand eine intensive Zusammenschau, die berührend war mit ihrer Dichte an Erfahrungen und Eindrücken und die einen gemeinsamen Kern erkennen ließ. Zu einigen Schwerpunkten der Tagung im Folgenden ein Bericht.Fehlende enge Bindungen zu Erwachsenen könnten ein Nährboden für Gewalt sein
Kindheit in der heutigen Zeit ist allgemein geprägt von früher Förderung und wird zunehmend in außerfamiliäre Institutionen verlagert. Leistungsorientierte Wissensvermittlung und Training sind jedoch nicht das, was kleine Kinder brauchen. Die menschliche Kindheitsentwicklung verläuft seit Urzeiten sehr langsam. Zeit ist es, die Kinder benötigen, um aus dem Schutzraum der vorgeburtlichen Entwicklung heraus sich in sich selbst, in ihrer Umgebung und in Beziehungen beheimaten zu können, wie der Berliner Kinderarzt und Psychotherapeut Christian Meinecke es ausdrückt. Aus dem Urvertrauen heraus können die Kinder mit Selbstvertrauen in der Welt wirksam werden. Selbstvertrauen entsteht durch selber tun. Statt Zeit zu haben für ausreichende Selbstwahrnehmung und authentisches Wahrnehmen der Welt mit allen Sinnen – Zeit, es selbst zu tun – erfahren kleine Kinder oft eine Überreizung von Seh- und Hörsinn. Hingegen bleibt die Motorik, auch die Sprachmotorik, unterentwickelt. Schon in Babygruppen entsteht Überforderung, und Förderung in Kita oder Schule bewirkt bei vielen Kindern Leistungsdruck und Stress.

Kinder lernen am besten von engen Bezugspersonen
Während die Vorstellung allgemein verbreitet ist, dass Kinder bessere Bildungschancen haben, wenn sie möglichst früh in Betreuungseinrichtungen gebracht werden, betont der kanadische Entwicklungspsychologe Gordon Neufeld, dass Kinder besonders gut von ihren engen Bezugspersonen lernen und im Kontext warmer, erfüllender Bindungen Fähigkeiten entwickeln, die wichtige Voraussetzung dafür sind, Bildungsangebote überhaupt nutzen zu können. Dazu gehören Interesse, Neugier und Eigenverantwortung im Lernprozess, die Fähigkeit aus Fehlern zu lernen, ebenso widersprüchliche Gedanken und Gefühle zu verarbeiten und dabei Selbstbeherrschung und Rücksichtnahme zu entwickeln. Diese Fähigkeiten sind hauptsächlich das Ergebnis von Reifungsprozessen, die bei erfülltem Bindungsbedürfnis stattfinden können. Das Reifwerden ist der Schlüsselfaktor dafür, dass ein Kind fit für die Gesellschaft wird, nicht die frühe Sozialisierung unter Gleichaltrigen.(2)

Aggression, Gewalt, Mobbing, Amok
In seiner Arbeit mit jugendlichen Strafgefangenen hat Neufeld lange danach gesucht, warum diese so wenig bereit waren zu lernen und fand die Hauptursache in einer tiefen Frustration. Die stärksten Frustrationen und Schmerzen erleben wir Menschen durch gescheiterte Nähe in Bindungsbeziehungen. Um dann nicht mit Aggression zu reagieren, müssen wir uns mit der Vergeblichkeit auseinander setzen und über die Tränen zum Anpassungsvermögen gelangen. Ein weiches Herz und ein sicherer Ort zum Ausweinen, eine enge Bezugsperson also ist notwendig, wenn es Kindern schlecht geht. Das können Gleichaltrige nicht leisten und so sieht Neufeld in der Gleichaltrigenorientierung statt einer vertikalen Bindungsstruktur einen Nährboden für Gewalt. Auch die üblichen Strafmethoden führen zu noch stärkerer Frustration. Im Film von Jo Frühwirth „Wo die Liebe fehlt, wächst die Wut“ wurde der Zusammenhang in beeindruckender Weise erfahrbar.

Frühkindlicher Stress wirkt lebenslang
Die Wirkung von frühkindlichem Stress, wie er bei Bindungsmangel, hektischer Umgebung und Überforderung entsteht, ist enorm und wird erst in den letzten fünf Jahren, seit auch kindliche Gehirne untersucht werden, besser verstanden. Die frühe Umgebung prägt sich im Zentralnervensystem ein und Schmerzerfahrungen werden gespeichert, wie der Arzt für Psychosomatische Medizin und Schmerztherapie Ulrich T. Egle erklärt. Zentral in den Auswirkungen steht die Regulationsfähigkeit der Stressverarbeitung, indem bestimmte, für den Stressabbau bedeutende Gen-Abschnitte erst aktiviert werden, wenn genügend Oxytocin vorhanden ist – ein Hormon, das beim Stillen und in Wechselwirkung mit mütterlichem Verhalten und sozialer Interaktion ausgeschüttet wird. Damit in Einklang stehen Ergebnisse verschiedener Studien, die z. B. zeigen, dass frühe Bindung Stressanfälligkeit klein hält und umgekehrt durch frühe Entbehrung der Abbau von Stress erschwert ist.
Das Stresshormon Cortisol, das nicht wie Adrenalin der Kampf- oder Fluchtreaktionen dient, sondern einer nachfolgenden Verarbeitung der beunruhigenden Situation, hat starke Wirkung auf die Entwicklung des Gehirns. Es beeinträchtigt das in den ersten 15 Lebensmonaten erfolgende ungerichtete Sprossen der Nervenzellen, wie der Psychologe und Hirnforscher Kristian Folta berichtet. Mit der Zunahme von frühkindlichem Stress scheint auch die Zunahme von Hirnfunktionsstörungen einher zu gehen. Auch Armut zählt zu Belastungsfaktoren der Kindheit.

Fehlende Väter verursachen hohe Kosten
Die körperlichen und seelischen Folgen einer belasteten Kindheit wie Beeinträchtigungen des Immunsystems mit vielen Krankheitsbildern, chronische Schmerzzustände oder Depressionen können auch erst sehr viel später im Leben in Erscheinung treten. Eine Studie zu Langzeitfolgen kriegsbedingter Vaterlosigkeit wurde von dem Arzt und Psychotherapeuten Matthias Franz vorgestellt: nach 50 Jahren zeigte sich ein 2,5-fach höheres, weitere zehn Jahre später ein noch höheres Risiko psychisch zu erkranken. An diesem für die Untersuchenden völlig unerwarteten Ergebnis wird auch die lange währende kollektive Verleugnung der Bedeutung des Vaters erkennbar. Franz stellte auch das Fehlen von positiven Vaterbildern über vier Generationen hinweg bis zur heutigen strukturellen Vaterlosigkeit dar. Heute betrifft die Vaterlosigkeit etwa 20 % der Kinder. Die Zahl der konfliktreichen Trennungen und damit die Zahl der Alleinerziehenden und Patchwork-Familien nimmt weiter zu.(3) Die aus der Vaterlosigkeit resultierenden gesellschaftlichen Kosten sind hoch. Dabei wären nach Meinecke bei guter Kommunikation zwei Drittel der Trennungen vermeidbar.
Die frühe Erziehungserfahrung wirkt sich nicht nur auf das Individuum sondern auf die gesamte Gesellschaft aus, so der Psychiater, Psychoanalytiker und Autor Hans-Joachim Maaz. Unsere kapitalistische Lebensweise mit Gier und gestörtem, süchtigen Verhalten ist nicht durch eine Obrigkeit geschaffen, sondern durch uns selbst, als Abbildung unserer psychosozialen Frühgeschichte, die wir unter Wiederholungszwang leben und weiter geben. Nicht was wir beabsichtigen, sondern was wir als elterliche Erfahrung in uns tragen, kommt bei der Erziehung an.
So wurde von verschiedenen Mütterlichkeits- und Väterlichkeitsstörungen berichtet: Wie u. a. „Muttermangel“ durch wenig entgegengebrachte Liebe und Zeit – der für die Kinder zu übersteigertem Leistungsverhalten, Streben nach Geld und Ansehen, zu Sucht wie auch zu Mangelschmerz bei besonders guten Beziehungen führt. Oder „Vaterterror“, wenn der Vater aus Sehnsucht nach Mütterlichkeit das Kind als Konkurrenten betrachtet. Unsere zentralen gesellschaftlichen Probleme sind Folgen früher „mütterlicher“ und „väterlicher“ Störungen, deshalb ist es besonders wichtig, Beziehungs- und Bindungsfähigkeit von Eltern und Lehrenden in den Mittelpunkt zu stellen.

Kinder nicht ständig testen und messen
Auch die politische Lage wurde in einigen Vorträgen thematisiert: Wie Eltern in ihren Rechten beschnitten werden, wie wenig Unterstützung Familien erhalten und dass Familienpolitik bei uns eine Politik der Unterlassungen ist. Der Jurist Albin Nees, Präsident des Deutschen Familienverbandes, nannte verschiedene Maßnahmen, die die Situation der Familien verbessern könnten. So wurden auch das Wahlrecht ab Geburt und ein Erziehungsgehalt angesprochen. Der Hinweis auf das Konzept eines Erziehungseinkommens, wie es der Verband der Familienfrauen und -männer vertritt, führte zu einer regen Nachfrage am Infostand.
Die Schirmherrin Stephanie zu Guttenberg machte sich authentisch für das Wohl der Kinder stark. Sie forderte, endlich die Kinder und die Bedeutung der ersten Lebensjahre in den Fokus zu rücken und wandelte das Motto „Die Kinder sind unsere Zukunft“ um in „Es geht um die Zukunft unserer Kinder“. Bei sozial schwierigen Verhältnissen sollten die Familien vom ersten Tag an Unterstützung erhalten. Familien, die ihre Kinder selbst erziehen wollen, sollten finanziell und auch gesellschaftlich unterstützt werden.
Der Erziehungswissenschaftler und Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann, dessen Vortrag als Video auf der Internetseite zur Tagung veröffentlicht  ist (1), stellt die Wichtigkeit der Nähe und des verlässlichen Ordnens der Wahrnehmung durch die Eltern heraus. Anstelle von verlässlicher Beziehung werden die Kinder heute in erbarmungslose Konkurrenzsituationen gedrängt. Wir brauchen Eltern, die sich der Verarmung der Bindungen entgegen stellen, Lehrende, die Bindung schaffen und Therapeut/innen, die das Besondere an jedem Kind sehen und ansprechen, statt technokratisch zu messen und zu testen. Sein Resümee ist, dass eine Kultur, die Mütterlichkeit entwertet, sich seiner elementaren Substanz beraubt und auf Dauer nicht überleben kann.

Fußnoten:
1) www.familie-ist-zukunft.de
2) Fernkurse zu Kindheit und Adoleszenz: www.gordonneufeld.de
3) Angebot der Universität Düsseldorf: www.palme-elterntraining.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert